Peter Wawerzinek - Rabenliebe
Das Bild im Schlafzimmer. Der Mann in Polizeiuniform. Sein Name ist Diethard oder Reinhold. Ich bin mir nicht sicher. Ich will es nicht wissen. Ich frage nicht nach dem Namen. Ich verlasse die Küche. Ich habe mit meinem Eintritt die Küche nie betreten. Ich bin abwesend. Ich sitze aufrecht am Tisch. Meine Blicke auf die Mutter sind über die Schulter hin getätigte letzte Blick auf eine Frau, die ich mit Blicken bewerfen, mit Blicken steinigen, zu Tode blicken kann, so wie sie da auf ihrem Küchenstuhl klemmt, hingespuckt, mit einem Buckel auf dem Rücken, gegen die Küchenwand gedrückt, ist sie kein menschliches Wesen, ist eher Teil der Küchenwand, bleich und formlos. Und kann die Last nicht ablegen. Und wird diesen Schuldbuckel nicht los, der aus ihr hervor gewachsen ist, der zweimal schwangere, zweimal entleerte Mutterbauch. Und schafft nicht, Rabe zu sein, sich das Herz zu zerhacken, mit ihren über siebzig Jahren. Endlich wahrhaben wollen. Endlich Missstand eingestehen, sich für unfähig erklären.
Ich frage bei der Mutter nicht nach. Ich unterrichte sie nicht mit Fakten aus Akten. Was die Mutter sich einredet, nicht ein wahres Körnchen findet sich dran. Erstunken und erlogen ist ihre Beichte. Bis in den Tod hinein wird sie sich belügen, mit Erfindungen befriedigen, weil sie alles verdrängt hat, Lüge ist, was sie erinnert. Die Mutter muss vor sich in Schutz genommen werden, vor ihrer Verdrängung, die dafür verantwortlich zeichnet, dass sie kein Gram befällt, kein Unrechtsgefühl ergreift und sie sich vor Schuld und Scham die Augen auskratzt, die Adern zerbeißt, das Herz abdrückt, Gift zu sich nimmt, sich fortnimmt aus dieser Welt und unbeweint ins Vergessen schleudert. Wie Spinnengewebe, alt und verstaubt, herrenlos und unbeachtet wird ihr das verlogene Leben zum Leichentuch. Ein Gespinst, das man mit einem Atemzug wegpusten kann.
Cobwebs from an empty Skull. Spinnweben aus einem leeren Schädel.
Ambrose Gwinett Bierce
OHNE ANZULÄUTEN betritt ein dunkelhaariger Junge um die dreizehn, vierzehn Jahre die Küche, von mir als Besucher nicht weiter überrascht, hebt ruckzuck die Deckel der auf dem Herd stehenden Töpfe an, blickt in sie hinein, wechselt augenblicklich sein Antlitz vom Ernst nach der Schule in ein freudiges Strahlegesicht über, ruft Bohnen und Kartoffelbrei wau, nimmt sich eine Bulette aus der Pfanne, steckt sie ganz in den Mund, klopft der Mutter die Schulter, lobt ihr Tagesangebot mit Kochen kann die Oma wie keine zweite. Nimmt sich einen Teller aus dem Schrank über dem Herd. Füllt sich eine Mahlzeit auf. Isst im Stehen. Schaut mich an, während ich mich erhebe, ihn förmlich begrüße, meinen Namen sage und nach dem seinen frage, mich ihm als Onkel vorstelle, ihn Neffe heiße. Da ward geboren ein Königssohn, und bestieg vom Vater den Thron, und war dann König von Ägypten, aber leider auch zu sehr korrupt. Da kam zu seinem Pech ein oberster Leutnant mit Namen Gamal Abd el Nasser an den Hof; und stieß den König vom Thron und setzte Faruks Sohn, erst sechs Monate alt, an dessen Stelle, ließ das Baby Kinderkönig von Ägypten sein, mehr als ein Jahr, fegte dann das heilige Königsamt hinweg und machte Ägypten zur Republik. Und indem ich mich dem Neffen als Onkel vorgestellt habe, zückt der sein mobiles Telefon, benachrichtigt seine Mutter, die ich als meine Schwester Nummer zwei im Kopf registriere, dass da ein fremder Mann bei der Oma in der Küche sitzt, der behauptet ein Onkel zu sein, und der große Bruder von allen ist, wenn ich es dir doch sage, ja bei der Oma hier am Küchentisch, das soll die Angerufene ihm ruhig glauben und könne sie von der Oma bestätigt kriegen, um irre zu finden und für Grund genug zu erachten, wärs an der Zeit, alles stehen und liegen zu lassen und herüberzukommen, den Bruderonkel zu begrüßen. Ich muss übers Mobile den Sachverhalt bestätigen. Wenn dem so ist, werde Schwester Nummer zwei rasch ihren, meinen, unseren Bruder anrufen, den ich Bruder Nummer zwei nenne. Der schwinge sich sofort aufs Fahrrad, sagt sie und wohne noch näher dran als sie, ohne Rad brauchte der zwei Minuten, alle Geschwister wohnen um die Ecke, als kämen sie nicht von der Mutter los. Und wenig später schon ist er dann tatsächlich auch da, stürmt mit einem nebensächlichen Tagmutter auf mich zu, herzt mich kurz und kräftig, presst und begrüßt mich rege, benimmt sich mir gegenüber, als wäre ich von einer langen Irrfahrt auf der hohen See endlich heil zurück in den Heimathafen eingelaufen. Steht breitbeinig vor mir, Bruder Nummer zwei. Schaut mich von Kopf bis Fuß an wie bei der Musterung. Den großen Bruder. Setzt sich beinahe auf den Pflaumenkuchen. Rückt den Stuhl vom Tisch weg, biegt sich mir mit dem Oberkörper entgegen, schaut mich an, fragt mich aus, den Oberkörper in Schwebe über die Schenkel gebeugt, in Habachtstellung unter Hochspannung. Hört mich an. Hört mir zu. Saugt meine Worte mit Aug und Ohr ein. Schüttelt den Kopf. Sieht die Mutter kopfschüttelnd an. Sagt, dass er nicht glauben könne, was er zu hören bekommt, nicht fassen wolle. Steht einszweimal auf. Geht in der Küche herum. Steht hinter mir. Muss mich rechts und links bei den Oberarmen fassen. Ist so sichtlich froh über mein Erscheinen. Der kleinere Bruder, ich, der zwei Jahrzehnte nach mir geborene Bruder Nummer zwei einen Kopf größer als der große Bruder von Wuchs, steht vor mir, bittet mich noch einmal hoch, muss mich wieder drücken, ansehen, drücken. Dann sitzt er nur da, schaut mich an, ist zu Tränen gerührt und hat noch auf dem Rad, während er herfuhr, Bruder Nummer eins Bescheid gegeben, den ich vom Kaufhaus her kenne. Wo der nur bleibt, müsste längst schon da sein, wohne obendrüber im gleichen Hausaufgang. Eine Tante fällt dem Königsjungen ein, wählt deren Nummer, sagt erwartungsvoll, er könne sich einen Euro dabei verdienen. Informiert Schwester Nummer drei, wettet mit ihr, dass der große Bruder hier ist, den niemand je kannte noch sonst wer zuvor gesehen hat. Und reibt sich die Hände und weiß, dass er die Arme ganz aus dem Häuschen gebracht hat, mit diesem Telefonat, die sich nun im Kreis dreht, nicht hinten und vorne und nicht weiß, wie und was zuerst nur tun. Wohnt ein Haus weiter, von hier aus durchs Fenster zu sehen, mit einem kräftigen Hieb hinüberzuspucken. Ein Mops kam in die Küche und stahl dem Koch ein Ei. Da nahm der Koch die Kelle und wenig später ist dann Schwester Nummer zwei zu umarmen, die Mutter vom Neffen. Von der Sonne verwöhnt. Rehbraune Haut wie gerade aus dem Urlaub gekommen. Strahlt über beide Backen, zeigt Freude über das ganze Gesicht. Da kamen viele Möpse. Tür auf Tür zu stößt die Schwester Nummer drei hinzu. Schlank machend in Schwarz gekleidet. Das doppelte an Körpergewicht wie die verhärmte, ausgemergelte Mutter. Hochrot im Gesicht. Gibt mir nur scheu ihre Hand. Holt einen Stuhl aus dem Wohnzimmer. Muss sich erst einmal setzen und Frischluft wedeln. So eine Aufregung am frühen Mittag, sagt sie und dann weiter nichts im gesamten Verlauf. Kann nur Tonloses in die Runde staunen. Muss ununterbrochen den Blick mit dem meinen verschweißen. Zu guter Letzt kommt der Kaufhallenkassenbruder, den ich als Bruder Nummer eins im Register führe, weil er der erste Bruder war, dem ich begegnet bin. Ein dünner Schlacks. Mutter, Sohn, Schwester Nummer zwei, Schwester Nummer drei, Bruder Nummer eins, Bruder Nummer zwei und ein Neffe, sieben auf einem Streich, notiere ich, sieben Verwandte in der kleinen Küche, um den kleinen Tisch herum. Der Pflaumenkuchen bekommt allen wohl und ist bis auf ein Eckchen weggeputzt. Die maschinell hergestellte Herrenkuchenrolle wird unangerührt neben den Abwasch verbannt. Und irgendwann kommt da ein Kumpel den Neffen zum Basketball holen, der leider nicht bleiben kann, sich herzlich verabschiedet, die letzte Bulette im Weggehen mit dem Kumpel teilend. Ist ein guter Basketballspieler, sagt die stolze Mutter und wird mit einem lauten: Bin der Beste durch die sich schließende Tür korrigiert. Ich habe längst das mitgeführte Notizbuch aufgeschlagen vor mir liegen. No matter what road I travel I'm going home, steht auf die Innenseite geschrieben und ins Deutsche übersetzt darunter: Ganz gleich, welchen Weg ich nehme: Ich gehe nach Hause. Shinso. Die Gespräche gehen hin und her, der Gesprächspegel klettert munter rauf und runter. Ich schreibe, einem Beamten gleich. Lauter Namen, Hausnummern, Geburtstage, Adressen, Merkmale, Eigenschaften, Hobbys und Vorlieben. Bruder Nummer eins bis Bruder Nummer vier. Schwester Nummer zwei bis Schwester Nummer vier. Die meisten Geschwister sind am Ort geblieben. Schwester Nummer vier hat sich was getraut und ist abgehauen, weggezogen. Nach Frankreich, Heidelberg, Saarbrücken. Hat dort eine kleine Diskothek. Ein Bruder hat sich ein Fertighaus gebaut. Maria heißt eine Tochter. Wird ziemlich dickköpfig, das Kind, will dies nicht und das nicht. О weh. Und Bruder Nummer eins zeigt seinen Körper, die Tätowierungen. Die Hälfte vom Verdienst geht für die Bemalung drauf, sagt Bruder Nummer zwei. Und in der Rosengasse war es sehr eng, sagt Schwester Nummer zwei. In der Itterstraße hatten sie mit Hochwasser zu tun. Und in der Brückenstraße, nein in der Hauptstraße, da hat es richtig gebrannt, da mussten sie in die Brückenstraße umziehen. Das Haus ist längst abgerissen. Und vom Neffen heißt es, dass er einen Schuhtick hat, in Frankreich ausgelöst, muss er in jeden Schuhladen rein. Schuhe, die keiner hat, sein Motto, sind die besten. Besitzt echte Skaterschuhe, Größe vierundvierzig. Spielt Basketball im Verein. TV Eberbach. Will später einmal Friseur werden, ein Geschäft übernehmen. Kann im Grunde alles, ist nur eben sehr faul, sagt die Mutter. Und Bruder Nummer zwei war vor Jahren im Big-Brother-Container. Siebzehn Tage lang live im Fernsehen. Schwärmt vom Casting, dem Vorsprechen, der Tiefenuntersuchung, den vielen Tests und kennt seitdem seinen IQ. Hat Altenpfleger gelernt. Und die Mutter will im früheren Leben in Pinneberg bei einem Arzt im Haushalt ausgeholfen haben, fragt sich Bruder eins, wie das nur gehen soll, wenn sie im Osten gewesen war? Und ist erst vor Kurzem auf offener Straße umgekippt, Wasser oder Blut in der Lunge, und die rechte Herzseite funktioniert nicht mehr, schluckt ein Dutzend Tabletten über den Tag. Und was ihren Mann von damals anbelangt, zwei Tage tot in der Wohnung gelegen hat er, ohne dass es bemerkt worden ist. Mit dem ist sie nach Hamburg, sagt sie, von dort aus erst zu ihrem Vater, dem Polizisten. Die Neckarbrücke wurde in dem Jahr gebaut. Mehr sagt sie nicht. Und mit dem Mann, der mein und der Stralsunder Schwester Vater war, da gab es eine Fernscheidung, sagt Schwester Nummer eins. Dann war sie mit einem neuen Mann zusammen, dem Vater der Brüder und Schwestern aus dem Westen. Der trank und wechselte schließlich in ein Alkoholikerheim über. Es bestand daraufhin zu ihm kein Kontakt mehr. Rund um den Ort ist wieder Eberbach-Triathlon. Siebenhundert Meter Schwimmen, sechs Kilometer Joggen, einundzwanzig Kilometer Radfahren. Deswegen die vielen Radfahrer heute. Dreißig Jahre lebt die Mutter nunmehr allein. Schwester Nummer drei ist ihr die treuste, kommt oft vorbei. Was die Buletten angeht, Kochen hat sie im Arzthaushalt gelernt. Ohne Kochbuch, habe die Mutter behauptet. Und der Vater vom Neffen kocht hervorragend, sagt Schwester Nummer zwei. Türkische Eintöpfe. Lamashu, Hackfleisch, mehr als scharf, oberscharf, mit Paprika und Soße. Sie ist von allen Kochkünsten befreit. In der Hauptstraße arbeitet sie, bietet Tee und Geschenke feil. Der Eberbächler Dialekt, sagt Schwester Nummer drei, gilt in Mannheim als Hochdeutsch. Auf meine Frage bekomme ich zur Antwort, gegen dreiundzwanzig Uhr zur Welt gekommen zu sein. Die genaue Uhrzeit weiß die Mutter nicht. Bruder Nummer eins und Schwester Nummer zwei, gestern beide noch im Clinch, haben sich aus Anlass meines Besuchs vertragen. Der Streit wird nebensächlich. Brüder und Schwestern haben ihren großen Bruder am Tisch sitzen, der hat die Augen der Mutter, das sollte denn wohl so sein. Ansonsten Telefonnummern. Postleitzahlen. Ortsnamen. Adressen. Bruder Nummer vier will nichts mit der Familie zu schaffen haben. Lebt eigenbrötlerisch und anonym. Angaben zu insgesamt acht neuen Geschwistern, vier Brüder, vier Schwestern. Alle nach mir geboren. Alle im Westen auf die Welt gekommen, hier groß geworden. Von einer Mutter, die still auf ihrem Stuhl hockt und Stück für Stück vom Tisch abrückt. So unscheinbar sie als kleine, alte Person im Raum klemmt und völlig unbedarft erscheint, im fremden fernen Osten, in Rostock, in der Hafenstadt, auf leisen Sohlen, die Brut kann der Staat sich holen, ist sie weg über die Grenze, hat zwei Kinder von insgesamt zehn eigenen Kindern im Osten gelassen, mich und Schwester Nummer eins ausgesetzt, nicht als Pfand, sondern für alle Zeiten, sich von ihnen durch ihre Flucht befreit, ins Land des Vergessens begeben, mit dem Rücken zur sicheren Wand, immer an der Wand entlang, Auge, Ohr und Mund vor der Tatsache verschlossen, dass sie ihr Leben lang Mutter ist und eine Adoption wieder zu lösen. Und hat, als wären die zwei Kinder im Osten nicht vorhanden, von Neuem angefangen, Kinder zu gebären. Acht innerhalb von zwanzig Jahren. Und musste sich bis heute nicht für die Flucht vor den eigenen Kindern verantworten. Wird nicht zur Rechenschaft gezogen, vor Gericht gezerrt und für ihr Verbrechen bestraft. Ist, wie sie war, bleibt, was sie wurde, eine, die sich davonstiehlt, so auch auf engsten Küchenraum. Hockt in sich geknickt, untauglich für den anstehenden Erinnerungsprozess, die Reinigung. Begraben unter dem angelogenen Massiv aus Selbstbetrug. In Jahrzehnten der Verdrängung angehäuft. Hat mit den nachgeborenen acht Kindern die zwei totgesagten zugedeckt. Zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit. Dieser Wurm in Person. Nicht befähigt, Reue zu empfinden, gewillt, sprachlos zu verschwinden. Nicht eine Gegenwehr, wie hoch und hin und her es auch in der Küche geht. Nicht einmal ein Stopp und Halt, ich möchte dazu Folgendes sagen. Von den Ereignissen in ihrer Küche beherrscht, von ihrer Feigheit niedergerungen, von der Verdrängungsmaschinerie überrollt, und völlig desinteressiert an dem, was um sie passiert, dieser Art Heimsuchung nicht gewachsen. Zu allem immer nur gelogen und viel zu lange verschont geblieben, schlägt mit meinem Besuch das Schicksal zu und es gibt da für sie kein Geraderücken. Sie spielt keine Rolle. Sie existiert in der Küche nur am Rande. Die Brüder, Schwestern fragen mich aus, unterrichten, informieren mich, sprechen Vergangenheit an und berichten Teilstücke ihres gelebten Lebens, die Stücke unserer getrennten Wege sind, nichts weiter als die Gelegenheit, sich miteinander ins Verhältnis zu setzen, ein jeder für sich selbst neu zu finden.
Ein Mann, heißt es, ist nach der Wende mit seinem knallroten Trabbi bis hierher aufgebrochen und Autohändler geworden. Dann klingelt das Telefon. Bruder Nummer drei hat von mir über Schwester Nummer zwei erfahren und will mich auch im Namen der Schwester Nummer vier gern sehen. Auf ein Bier. Ich schlage das Notizbuch zu, mir schwirrt der Kopf. Das Bild auf dem Notizbuch, ich sehe es mir zum ersten Mal genauer an. Ein Mann in Sandalen und in ein orangenes Tuch gehüllt, geht auf ein offenes Tor zu. Das Tor besteht aus Baumstämmen und in die Lücken eingefügte Steinen. Eine riesige Aushöhlung, hinter ihr ein mit Bäumen bestandener Park. Wie vor dem Tor fühle ich mich. Gehe ich hindurch, bin ich in einer anderen Welt, der Welt der Brüder und Schwestern. Ich gehe nach Hause. Ich kann beruhigt gehen. Ich stelle mir kein Leben mehr mit der Mutter vor, wie es gewesen wäre für mich, das Leben mit einer Mutter. Und hab ich einst geendet des Lebens ernsten Lauf, dann setz mir einen Hügel und setzt ein Blümlein drauf, doch nehmt aus meinem Busen das arme Herz heraus. Was ich in den drei Stunden zur Mutter erfahre, reicht hin, sie weiterhin nicht anzuerkennen. Und dann ist Treff beim jüngsten Bruder. Der hat eine Schlange und füttert sie mit Mäusen. Ist schon sehr verwöhnt, der kleine Bruder. Nach dem Big-Brother-Erlebnis will Bruder Nummer zwei es noch einmal packen, unbedingt auf die Bühne, singen, bekannt werden, erhofft sich eine neue Möglichkeit, den Schub durch eine neue Chance, die er sofort ergreifen will. Fernsehstar werden. Superbruder. Das kanns doch nicht gewesen sein, sagt er. Und kann es einfach immer noch nicht fassen, dass die Mutter aus dem Osten ist, aus dem Honeckerland, der Stasizone. Und dann schauen wir uns Fotos an, Bilder aus der Kinderzeit, Pubertät. Die Fresse von Bruder Nummer eins ist die gleiche geblieben. Die Geschwister erzählen mit Vorsicht einiges zur Mutter, die oftmals fort, tagelang, wochenlang, nicht bei den Kindern ist. Nachbarn müssen sich um die Kinder kümmern. Eine zügellose, unmenschliche Despotin sei sie gewesen, jähzornig, in plötzliche Wut ausbrechend, mit Hang zur Grausamkeit. Ihrem Verhalten gegenüber steht die Ohnmacht der Amter. Blaue Flecken und Geschrei. Die älteren Kinder kümmern sich um die jüngeren Geschwister. Das jüngste Kind nennt die älteste Schwester Mutter, weil es sie für seine Mutter hält, die richtige Mutter ihm wie eine Besucherin erscheint, die für eine Weile im Haus ist, laut wird, rumschimpft, nach den Kindern wie nach lästigen Fliegen klatscht. Geschrei ist die tägliche Hausmusik auch bei uns im Osten gewesen, erzähle ich. Ruppig-rüder Umgang sind die Streicheleinheiten dieser Frau, kommt mit den zwei Kindern nicht klar. Krach aus der Wohnung ist man gewohnt im Haus, und auch dass die Mutter länger weg ist. Aber als es immer stiller und die Mutter länger nicht gesehen wird, schreiten die Nachbarn ein, schalten Ämter ein. Das Amt sieht sich genötigt, etwas zu tun, dass die Kinder wieder zu Stimme kommen und vielleicht einmal vor Freude schreien können, Krach schlagen, wenn ihnen Unrecht geschieht, nicht hauchfein das Leben auswimmern, zu einem unhörbaren letzten Winseln verurteilt sind. Wer immer als Erster gemeint hat, man dürfe nicht länger weghören, müsse was gegen den Zustand unternehmen, ehe es für die Kinder zu spät ist, wer immer zuerst gehandelt hat, er hat mein Leben und das Leben der Schwester gerettet. Sie haben sich nicht im Entferntesten ausgemalt, wie es aussah bei uns. Der rechtschaffene Mensch kann sich nicht ausmalen, was zu tun eine Mutter fähig ist und was zu unterlassen, was Gang ist und Gewohnheit bei gewissen Familien. Wie kann man mit dem eigenen Kind überfordert sein. Wenn man jung ist, ich bitte, höre ich die Museumsdame kommentieren; die war unreif, das war klar, man hätte der das Neugeborene am Wochenbett abnehmen müssen, und alle weiteren Kinder. Kein Tier haust so. Und dieser Dreck, dieser Stallgeruch und mittendrin ich und meine kleinere Schwester, zwei elendige Gerippe zwischen Unrat und Kot, Hingekotztem und Kehricht. Nackt am kalten Boden liegend. Oh, wie muss ich wieder weinen, muss immer wieder weinen, weinen. Eine wütige Person, diese Frau Mutter. Von plötzlichen Attacken gepackt, schlägt um sich, teilt aus, langt hin, dreht durch, haut auf die eigenen Kinder ein, statt sich selbst die Fresse gehörig zu polieren. Und die Tassen, Teller, Kuchengabeln auf dem Tisch sind aufgeregter als die unter uns weilende Mutter, der Grund meiner Reise hierher, die Mutterfahrt, die so lange Zeit meines Lebens das große Thema war. Und was sie zu gestehen hat, beschränkt sich auf die Jetztzeit. Sie sei eben aus dem Nachbarhaus in die Etagenwohnung hierher umgezogen. Sie müsse die momentane Ungemütlichkeit entschuldigen. So eine Frau also ist meine Mutter, denke ich, drehe das Muttergefühl auf null, verstaue die Kinderheimzeiten und alle die aus ihr resultierenden Muttersehnsüchte tunlichst in meine persönliche Verwahrkiste. Wie es mir geht bei der Mutter, fragt mich Schwester Nummer zwei. Ich habe weiterhin keine Mutter, antworte ich. Uns stellen sich weiterhin getrennte Vergangenheiten in den Weg. Es habe einmal Gerede gegeben. Gerüchte um zwei Kinder im Osten, erinnert sich Bruder Nummer eins. Eine Tante hat behauptet, dass es im Osten noch zwei Geschwister gäbe. Und die Mutter hat darauf nur barsch geantwortet: Die sind mir gestorben, die beiden; hat sich entsetzt, wie man nur nachfragen kann, und mich wie die Schwester einfach für tot erklärt. Sie ist eine geistige Kindsmörderin. Sie hat uns auf dem Gewissen. Eine Flüchtende vor dem eigenen Ich ist sie. Dahinein, so mit der Gabel, hat sie einem Kind von ihnen in den Handrücken gestochen, das nach einer Bulette greifen wollte, als es noch nicht erlaubt war. Die drei Punkte verheilen nie. Erzählen könnten sie alle noch viele solcher Geschichten, sagen die Geschwister. Und reden nicht weiter.