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Sibylle Lewitscharoff - Blumenberg

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Überhaupt: Wahrheit. Durfte der Wahrheitssucher darauf vertrauen, daß sich ihm das Seiende einfach so öffnete? Oder war da Gewalttat im Spiel, Überlistung, Abpressung, hochnotpeinliches Verhör des Gegenstandes? War das Wahrheitsvermögen des Menschen an die Ökonomie seiner Bedürfnisse gekettet oder durch seine Begabung zum Glück inspiriert, seine Begabung, den Überfluß zu ersehnen nach der Idee einer visio beatifica?

Vielleicht war es sogar die Einsicht, niemals im Besitz der Wahrheit zu sein, die frei machte und ihr gerade dadurch am nächsten kam, ganz im Gegensatz zur Verheißung, der Wahrheitsbesitz mache frei.

Blumenberg war jetzt richtig aufgepulvert, nahm sein Glas von einem Typoskript und schenkte sich neu ein. Er wollte das Thema verscheuchen, aber es drängte wieder heran. Die Verbrechen der Wehrmacht. Ein schlagendes Beispiel. Soweit die Verbrechen von einfachen Soldaten und mittleren Rängen verübt worden waren und nicht nur die wenigen Generäle betrafen, die man in Nürnberg abgeurteilt hatte, konnte von ihnen bis heute nur schwer öffentlich gesprochen werden. Dazu mußten viele Angehörige einer Generation weggestorben oder die wenigen, die noch am Leben waren, zu altersmürb und einflußlos geworden sein, um der Gesellschaft noch schaden zu können.

In seinem aufgekratzten Zustand war an normale Arbeit nicht mehr zu denken. Jäh stand er auf und umkurvte den Löwen mitsamt Glas in einem Bogen, fast wäre er gestolpert und hätte das Gleichgewicht verloren; der Löwe aber blieb ungerührt liegen, als wisse er genau, daß kein Fall zu befürchten war.

Blumenberg ging hinüber ins Musikzimmer, um sich über einer Einspielung der Goldberg-Variationen zu beruhigen.

Die Musik, die ja ursprünglich für einen Schlaflosen komponiert worden war, der sich zu seiner Aufheiterung ein Stück sanften und munteren Charakters gewünscht hatte, beruhigte und entspannte ihn tatsächlich. Gut, böse, böse, gut, das lästige Thema geriet allmählich in den Hintergrund; er fühlte, wie die Gouldschen Finger in präziser Hast auf seinen gesamten Körper einhämmerten, und so annehmlich weichgeklopft, wie er nun allmählich wurde, nahmen andere Gedanken von ihm Besitz.

Er dachte an eine Mappe, eine ganz besondere schwarzgeriffelte Mappe mit der Aufschrift Was ist das Allerletzte?. Darin verwahrte er seine Sterbeskizzen. Eher in leichtem, gewitztem Ton, nicht mit Schwere zu Papier gebracht, enthielt die Mappe seine Phantasien über die Art, wie Menschen starben. Menschen, die er persönlich kannte, und Figuren, die ihm aus dem öffentlichen Leben geläufig waren, eine Spekulation über ihre letzte Stunde, die zum Zeitpunkt der Abfassung noch nicht eingetreten war. Das Wann und Wie, die Hoffnungen, die sie hegen mochten, Gebrechen, die sie plagten, Erleichterung, die sich einstellte, Turbulenzen, mit denen sie es zu tun bekamen, Erwartungen, die nicht erfüllt oder so umfassend erfüllt wurden, daß Schrecken daraus erwuchs. Einen sympathischen jungen Fant etwa, der bei ihm studiert hatte, sah er als Uralten, über Hundertjährigen, vor Adonai hintreten, der ihm die Antwort auf die Frage nach seiner Existenz ins Ohr tuschelte, damit die Engel nicht eifersüchtig würden. Angesichts der vielen, vielen Ewigkeitsadepten um ihn her hatte der Mann bloß einen Wunsch: Bitte lösche meine Existenz aus. Das sah auf den ersten Blick gewichtiger aus, als es gemeint war. Der Ton hatte etwas von einem sprudelnden Aspirinwässerchen.

Seit Jahren schon sammelte er solche Mutmaßungen und hatte seine geheime morbide Lust daran. Vielleicht würde er später wieder ins Arbeitszimmer überwechseln und eine Skizze darüber anlegen, wie der Redakteur, dieser schlaue Erzskeptiker, starb.

Weiteres Zwischenstück, in dem der Erzähler die Zeit um ein Jahr voranschiebt

Anders als versprochen, meldet sich der Erzähler noch einmal zu Wort. Wir sind wieder im Mai, aber nicht im Mai 1982, sondern im Mai 1983. Was sich dazwischen alles zutrug in der Welt? Gewiß abermillionenmal mehr, als ein Erzähler, und sei er noch so gewissenhaft, zu Papier bringen könnte (und sollte). Halten wir fest, daß Helmut Schmidt die Regierungsgeschäfte an Helmut Kohl abtreten mußte. Die Argentinier, die sich mit blumigen Nationalworten in den Krieg gestürzt hatten, holten sich auf den Falkland-Inseln eine blutige Nase. Die eiserne Lady konnte den Sieg für sich verbuchen und blieb an der Macht. Der amerikanische Präsident hieß Ronald Reagan. Klaus Barbie, der Schlächter von Lyon, wurde in Bolivien festgenommen. Der Stern veröffentlichte die gefälschten Tagebücher Adolf Hitlers. Um Vivi Bach und Dietmar Schönherr wurde es stiller. Es starben Ingrid Bergman, Glenn Gould und Walter Spahrbier, der lächelnde, hornbebrillte Glücksbote aus dem westdeutschen Fernsehen, der immer mit hoch aufragender schwarzer Schirmmütze aufgetreten war, vorneauf ein glänzendes Posthornabzeichen.

Gerhard fühlte sich einsam. Nicht nur seine Freundin hatte er verloren, auch Richard war ihm abhanden gekommen, der ewig verdrossene, aber hin und wieder hoch amüsante Richard, der sich in der Ferne allmählich in einen anderen Menschen zu verwandeln schien. Seine Briefe, die in immer größeren Abständen aus Argentinien, Chile, Bolivien, Peru in Münster anlangten, zeugten mehr und mehr von einer selbstvergessenen Beobachtungsgabe, die Gerhard gar nicht an ihm kannte. Offenbar war das fremde Leben so auf den Freund eingestürmt, daß keine Luft blieb für seine üblichen Nörgeleien und Besserwissereien. Gerhard vermißte ihn sehr, insbesondere war er neugierig auf den verwandelten Richard, der womöglich weniger schläfrig, weniger trunksüchtig und weniger auf seine uralten Geschichten fixiert war. Ob Richard seinen Eltern nach Paderborn auch so gewitzte Briefe schrieb? In Hansi fand Gerhard keinen Ersatz, Hansi blieb der Immerselbe, unzugänglich, abweisend, aufdringlich wie gehabt mit seinem Rezitiertic. Zu weiteren Annäherungen kam es nicht, man grüßte einander mit einem Kopfnicken aus der Ferne, dabei blieb’s.

Und Blumenberg?

Blumenberg war dem Phänomen Löwe während des ganzen Jahres keinen Deut nähergekommen. Oberflächlich betrachtet. Wenn doch, so ist jedenfalls kein Hauch der innersten Geheimnisse, die Blumenberg und den Löwen durchwitterten, ans Ohr des Erzählers gedrungen. Ein Erzähler sieht zunächst nicht, er hört und verwandelt das Gehörte in Bilder, oder er hört mit den Augen — To hear with eyes belongs to love’s fine wit, wie es in einem Shakespeare-Sonett so treffend heißt. Einmal wollte der Erzähler dem Gekruschtel im Arbeitszimmer und den zur Decke steigenden Gedanken entnommen haben — es war aber nur eine Vermutung, mehr nicht —, daß Blumenberg eine geheime Mappe anlegte, in der er verwahrte, was er über seinen Löwen zu Papier brachte, Wunderkeimendes, flüchtig, sehr flüchtig hingekritzelt, nicht wie sonst üblich maschinengeschrieben oder in seiner gut leserlichen, im Runden sich einwohnenden Schrift. Alles über ihn und den Löwen. Die Mappe wurde versteckt, es gab offensichtlich nicht die richtigen Hände dafür, in die sie hätte gelangen dürfen. Und das Ohr des Erzählers war nicht fein genug, um zu erraten, wo sich die Mappe befand, nicht fein genug für das Hörensagen, Sagenlauschen, für das Hören höret nimmer auf, und so konnte sich sein Auge nicht scharfstellen, um das Inliegende zu erkennen.

Blumenberg sammelte allerdings auch Löwennotizen in herkömmlicher Form, die er nicht verstecken mußte, allmählich schwollen die diesbezüglichen Karteikarten zu einem größeren Stapel an. In den Vorlesungen war der Löwe kaum aufgetaucht, dafür lag er wie eh und je nachts im Arbeitszimmer auf dem angestammten Teppich. Unweigerlich hatte sich Gewöhnung breitgemacht; es kam vor, daß Blumenberg seinen Löwen während der Nacht einfach vergaß. Alles blieb beim alten. Eine handgreifliche Annäherung hatte Blumenberg nicht riskiert. Wenn auch nicht mehr so stark wie am Anfang, strömte aus dem Löwen noch immer Kraft und Zuversicht, sie strömte beständig und hatte zur Folge, daß Blumenberg sogar besser und erholsamer schlief, wenn er schlief, und auf Schlafmittel, die immer sein letzter Ausweg gewesen waren, um überhaupt zu schlafen, verzichten konnte.

Richard

Der Mai dieses Jahres war nicht besonders regenreich. Nur einmal am Tag wurde er von lauwarmem Regen durchnäßt und von lauwarmen Brisen trockengefächelt. Richard war seit Monaten schon auf dem südlichen Teil des amerikanischen Kontinents unterwegs. Opulente Romane, in denen das Leben aus jeder Seite nur so herausquoll, worin Levitationen so selbstverständlich waren wie das niedere Treiben auf der Erde, hatten ihn hierher gelockt, wohl auch die letzten Wallungen des Revolutionsfiebers, das ihn, den in Paderborn geborenen Sohn eines höheren Postbeamten im Verwaltungsdienst, einst auf dem Gymnasium gepackt hatte, vor allem aber das Mißtrauen, welches er seinem verbrecherischen Heimatland gegenüber hegte — ein böses, fort und fort schwelendes Mißtrauen, an dessen Rändern die Paranoia flackerte.

Er war gescheitert, und zwar gründlich, aber das Versagen hatte seinen Körper und sein Denken nicht mehr in der Gewalt. Monatelang hatte Richard mehr dahinvegetiert denn gelebt mit nichts als seinem Scheitern im Kopf. Nach außen hin hatte er sich abgebrüht gegeben, war in den Vorlesungen eingeschlafen, hatte in den Kneipen die Frauen abgeschleppt als ein verrucht alkoholisiertes Subjekt, das vielleicht nur im Bett zu retten war. Sogar seinem Freund Gerhard gegenüber hatte er den Überlegenen gespielt, ausgerechnet vor Gerhard, der guten alten Haut, hatte er dieses Theater aufführen müssen. Von wegen, er, Richard, habe alles schon erlebt, was es zu erleben gab! In Wirklichkeit hatte ihn sein Versagen gelähmt, und er hatte überhaupt nicht gelebt, und auf Gerhard, den er immer bespöttelt und ein bißchen heruntergeputzt hatte, war er insgeheim neidisch gewesen.

Ich bin ein totaler Versager, sagte sich Richard, oder vielmehr, er sagte es ganz leise in den Fahrtwind, und der Fahrtwind trug es zu den Vögeln, die gerade über ihm den Strom kreuzten, und er amüsierte sich dabei, denn sein Versagen wog inzwischen leichter als eine Feder. Er lag in einer Hängematte, seit Tagen, nein, seit Wochen schon, er hatte keinerlei Überblick mehr über die dahineilende Herde der Tage. Die Hängematte befand sich am Bug eines kleinen brasilianischen Frachters, der den ganzen ewiglangen Amazonas entlangfuhr.

Seinem Professor in Münster — Münster, dieses Nest, war in Richards Vorstellung inzwischen zu einem Spielzeugstädtchen geschrumpft, in das ein Vierjähriger hineinlangen konnte, um mit seinem Auto brummbrumm zu machen —, seinem Professor hatte er niemals imponieren können, mit nichts, rein gar nichts. Die Szenen, die das bewiesen, sah Richard jetzt in präzis ausgeleuchteter Schärfe vor sich. Er sah sich selbst als bleichen Wurm, der hinter dem Professor herkroch: ein schiefes Bild, der Professor war immer zu schnell fortgeeilt, nach Hause, in sein eigenes Reich, als daß Richard oder sonstwer hätte hinter ihm herkriechen können. Trotzdem entsprach die Wurmhaftigkeit Richards der Wahrheit, und manchmal hob dieser Wurm, der Richard lange Zeit gewesen war, flehentlich das Köpfchen, bitte bitte, Herr Blumenberg, wollen der Professor mich doch bitte bemerken. Richard lachte auf, als er sich seine komisch fruchtlosen Bemühungen ins Gedächtnis rief, ein bedeutendes Zeichen seiner selbst vor die unerbittlichen Augen des Professors zu pflanzen.

Die Monate, die er bisher in Südamerika verbracht hatte, in Argentinien und Chile, hatten die Verachtung, die er für sein eigenes Land hegte, inzwischen gemildert. Daß es in der Bundesrepublik ruhig und bequem zuging, während sich Pinochet Jahre zuvor blutig an die Macht geputscht und nebenan General Videla als knochenharter Diktator regiert hatte, der Gegner von der Straße wegfangen, foltern und ins Meer werfen ließ, gab ihm zu denken. Mit dem Grauen, das aus diesen Diktaturen sickerte und das Alltagsleben vergiftete, war er in Berührung gekommen, sobald er Leute näher kennengelernt und von ihrer Angst erfahren hatte. Der moralische Rigorismus seiner eigenen Generation, die verbockte Kampflust gegenüber den Eltern, eine Haltung, die wenig davon wissen wollte, wie es sich im einzelnen unter dem Faschismus gelebt hatte, wurde ihm allmählich suspekt. Und er begann zu verstehen, weshalb dem Professor dieser Rigorismus auf die Nerven gehen mußte, obwohl er sich niemals direkt, allenfalls in Anspielungen, die nur verstand, wer verstehen wollte, dazu geäußert hatte.

Mitten auf dem Amazonas dahinzufahren, in einer Hängematte liegend, während der warme Fahrtwind über seinen Körper strich, in dieser besonderen Lage, in der sich sein Körper glücklich fühlte wie nie zuvor, war es Richard möglich, sich an alles, was ihn während der letzten Jahre gequält hatte, deutlich zu erinnern, aber sein ins Deutliche gehobenes Elend schmerzte nicht mehr, der lind wehende Wind trug es davon. Selbst Isa, die er aus Leibeskräften verachtet hatte, sah er nun in anderem Licht. Sie war auch eine Versagerin gewesen, und ihm darin erschreckend ähnlich.

Womit war er denn nun gescheitert? Mit seiner Dissertation. Zwei Jahre lang hatte er sie zwischen seinen Fingern gewälzt, wobei es ihm niemals gelungen war, über die Seite sechsundachtzig hinauszukommen. Sobald er daran dachte, war ihm weniger zum Lachen zumute, aber lächerlich war das Ganze trotzdem, geradezu albern, wie Richard sich eingestand, mordsalbern sogar, dieses fruchtlose Bebrüten jeder einzelnen Seite im Hinblick darauf, ob sie dem Professor würde gefallen können; aber nein, natürlich würde eine so miserabel komponierte und schlampig gedachte Seite dem Professor niemals gefallen, er würde sie vor lauter Ekel nicht einmal lesen wollen, so ungefähr hatte sich Richard damals den Professor beim Lesen oder vielmehr Nichtlesen einer Seite seiner Dissertation vorgestellt, und des Professors nach allen Möglichkeiten hin ausgemalter Ekel hatte verhindert, daß Richard die Seite siebenundachtzig hätte in Angriff nehmen können und von da aus weiter die Seiten achtundachtzig, neunundachtzig und so fort.

Gottlob, es war vorbei. Am Thema hatte es nicht gelegen. Oder doch? War das Thema zu groß gewesen für Richards Kopf? Zu subtil für seinen rohen Charakter? Hatten ihn vielleicht die intrikaten Beziehungen, die zwischen den Jüngern und ihrem Herrn und zwischen den Studenten und ihrem Professor walteten — Jünger wie Studenten als zu erleuchtende Wesenheit, als Fleisch, in das der Geist fahren mußte —, daran gehindert, das Thema einfach zwischen zwei Fäuste zu nehmen und loszulegen?

Schon dem Kinde Richard hatte das Ausgießen des Heiligen Geistes großen Eindruck gemacht, besonders die Flämmchen, die auf die Köpfe der Versammelten gesprungen waren. Als ihm die Großmutter auf seine Bitten hin die Geschichte wieder und wieder erzählte, hatte sich der kleine Richard immer oben an den wassergezogenen Scheitel gegriffen in Erwartung eines Flämmchens, das sich zu seiner Enttäuschung aber niemals dorthin hatte verirren wollen.

Die kindliche Entflammtheit, die für den erwachsenen Richard nicht so ohne weiteres, höchstens mit einem karikierenden Grinsen, wiederzugewinnen war, konnte ihm bei seiner Dissertation nicht viel nutzen. Es nützte auch nichts, daß der kleine Richard unter den zungenfertigen Parthern immer einen oder mehrere Panther sich vorgestellt hatte, was die Sache allerdings sehr aufregend machte, denn Richard hätte sich für sein Leben gern mit einem ausgewachsenen Panther unterhalten. Nein, Richard war gescheitert, weil es ihm nicht gelungen war, hintersinnige Blumenbergfragen an die biblischen Texte heranzutragen und für diese Fragen wie in einem hochklassigen Billardspiel über die Bande treffsichere Antworten aufs Papier zu hacken.

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