Roald Dahl - Matilda
«Was zum Teufel ist denn mit dir los, Frau?» schrie er. «Schau dir an, was du für eine Schweinerei auf dem Teppich gemacht hast!»
«Deine Haare!» schrie die Mutter und deutete mit bebendem Zeigefinger auf ihren Mann. «Schau dir deine Haare an! Was hast du bloß mit deinen Haaren gemacht?»
«Was ist denn um des Himmels willen mit meinen Haaren los?» fragte er.
«O mein Gott, Vati, was hast du mit deinem Haar gemacht!» rief der Sohn.
Im Frühstückszimmer begann sich die herrlichste Keiferei zu entwickeln.
Matilda sagte gar nichts. Sie saß nur da und bewunderte die prachtvolle Wirkung ihrer eigenen Geschicklichkeit. Der dichte schwarze Haarschopf von Herrn Wurmwald sah jetzt schmutzig silbern aus, diesmal wie das Kostüm einer Seiltänzerin, die es seit Anfang der Zirkussaison nicht gewaschen hat.
«Du hast... Du hast... Du hast es gefärbt!» keuchte die Mutter. «Warum hast du denn das gemacht, du Idiot! Es sieht einfach gräßlich aus! Ekelhaft! Du siehst aus wie eine Mißgeburt!»
«Zum Donnerwetter, von was redet ihr denn?» brüllte der Vater und fuhr sich mit beiden Händen in die Haare. «Ich hab sie mir ganz bestimmt nicht gefärbt. Was soll das heißen, ich hätt sie mir gefärbt? Was ist denn damit passiert? Oder ist das ein übler Scherz?» Sein Gesicht nahm allmählich eine hellgrüne Farbe an, genau wie unreife, saure Äpfel.
«Du mußt es dir gefärbt haben, Vati», sagte der Sohn, «es hat jetzt genauso eine Farbe wie Mamis, nur, es sieht viel dreckiger aus.»
«Natürlich hat er’s gefärbt!» schrie die Mutter. «Haare kriegen nicht von ganz alleine eine andere Farbe. Was um des Himmels willen hast du bloß damit beabsichtigt, wolltest du schöner aussehen oder was? Jetzt siehst du aus wie irgendwessen Großmutter, die den Verstand verloren hat!»
«Her mit einem Spiegel!» heulte der Vater. «Steht hier nicht rum und schreit mich an! Bringt mir einen Spiegel!»
Die Handtasche der Mutter lag auf dem Stuhl am anderen Ende des Tisches. Sie klappte die Handtasche auf und holte eine Puderdose heraus, die innen im Deckel einen kleinen Spiegel hatte. Sie machte die Puderdose auf und reichte sie ihrem Mann. Er griff danach und hielt sie sich vors Gesicht und verschüttete dabei den halben Puder, der vorn auf seine knallbunte Tweedjacke rieselte.
«Paß doch auf!» kreischte die Mutter. «Jetzt sieh doch nur, was du wieder angestellt hast! Das ist mein bester Elizabeth Arden-Gesichtspuder!»
«Allmächtiger!» heulte der Vater und starrte in den kleinen Spiegel. «Was ist denn mit mir passiert! Ich sehe ja schrecklich aus! Genauso, als ob es bei dir schiefgegangen wäre. So kann ich nicht in den Betrieb. So kann ich keine Autos verkaufen! Wie konnte das nur passieren?» Er starrte in die Runde, richtete den Blick zuerst auf die Mutter, dann auf den Sohn, schließlich auf Matilda. «Wie konnte das nur passieren?» rief er.
«Ich könnte mir denken, Vati»,antwortete Matilda ruhig, «daß du nicht genau hingeschaut hast und einfach Mamis Flasche mit dem Haarzeugs vom Regal genommen hast statt deine eigene.»
«Ja natürlich, so muß es gewesen sein!» stöhnte die Mutter. «Also wirklich, Harry, wie kann man nur so blöd sein? Man muß sich doch das Etikett anschauen, eh man sich so was eimerweise auf den Kopf schüttet! Meins wirkt außergewöhnlich kräftig. Ich soll nur einen einzigen Eßlöffel davon in ein ganzes Waschbecken voll Wasser geben, und du schüttest dir alles direkt auf den Schädel! Paß nur auf, wahrscheinlich gehen dir jetzt alle Haare aus. Spürst du schon ein Brennen auf dem Kopf, Liebling?»
«Glaubst du, daß ich meine ganzen Haare verliere?» jammerte der Ehemann.
«Sicher», antwortete die Mutter, «Wasserstoffsuperoxyd ist eine sehr starke Chemikalie. So was gießt man auch ins Klo, um den Abfluß zu desinfizieren, nur da wird es anders genannt.»
«Was sagst du denn da!» schrie der Ehemann. «Ich bin doch kein Klobecken! Ich muß nicht desinfiziert werden!»
«Selbst so verdünnt, wie ich es benutze», fuhr die Mutter fort, «gehen mir davon schon eine ganze Masse Haare aus. Weiß also der Himmel, was mit dir passieren wird. Ich würd mich nicht wundern, wenn dir der halbe Kopf abgeht.»
«Was soll ich denn machen?» heulte der Vater. «Schnell, sag’s mir, ehe es anfängt auszufallen.»
Matilda sagte: «Ich würd’s tüchtig waschen, Vati, wenn ich du wäre, mit Wasser und Seife. Aber beeilen mußt du dich.»
«Wird dann die Farbe wieder zurückkommen?» fragte der Vater ängstlich.
«Natürlich nicht, du Dummkopf», sagte die Mutter.
«Was soll ich denn dann machen? Ich kann doch nicht ewig so rumlaufen!»
«Du mußt es wieder schwarz färben», sagte die Mutter, «aber zuerst wasch es lieber mal, sonst bleibt nichts mehr zum Färben übrig.»
«Also gut!» rief der Vater und ergriff wieder die Initiative. «Melde mich sofort bei deinem Friseur zum Haarfärben an! Sag ihnen, daß es sich um einen Notfall handelt! Sollen sie eben irgend jemanden von ihren Anmeldungen streichen. Ich geh jetzt rauf und wasch mir die Haare!» Damit stürzte der Mann aus dem Zimmer, und Frau Wurmwald begab sich mit tiefem Seufzen zum Telefon, um in ihrem Schönheitsinstitut anzurufen.
«Er macht in letzter Zeit wirklich komische Sachen, findest du nicht auch, Mami?» fragte Matilda.
Die Mutter antwortete, während sie die Telefonnummer wählte: «Ach weißt du, Männer sind nicht immer so gescheit, wie sie sich einbilden. Das wirst du schon noch lernen, wenn du ein bißchen älter wirst, mein Mädelchen.»
Fräulein Honig
Matilda war verhältnismäßig spät in die Schule gekommen. Die meisten Kinder wurden mit fünf oder noch jünger in die Vorschule gebracht, aber Matildas Eltern kümmerten sich in keiner Weise um die Erziehung ihrer Tochter und hatten einfach vergessen, rechtzeitig die entsprechenden Schritte zu unternehmen. Sie war fünf und ein halbes Jahr alt, als sie zum erstenmal die Schule betrat.
Die örtliche Grundschule befand sich in einem düsteren Backsteinbau und hieß Mahlheim Hall. Sie hatte zweihundertfünfzig Schüler und Schülerinnen im Alter von fünf bis knapp zwölf Jahren. Die Schulleiterin, die Chefin, die oberste Befehlshaberin dieses Instituts war eine stattliche Dame mittleren Alters, die Fräulein Knüppelkuh hieß.
Matilda kam natürlich in die unterste Klasse, in der achtzehn andere kleine Jungen und Mädchen etwa in ihrem Alter waren. Ihre Lehrerin hieß Fräulein Honig, und sie konnte nicht älter als dreiundzwanzig oder vierundzwanzig sein. Sie hatte ein liebliches blasses, ovales Madonnengesicht mit blauen Augen und hellbraune Haare. Sie war so schlank und zerbrechlich, daß man das Gefühl bekam, wenn sie hinfiele, müßte sie in tausend Stücke zerspringen, wie eine Porzellanfigur.
Fräulein Florentine Honig war eine freundliche und ruhige Person, die niemals die Stimme erhob und die man selten lächeln sah. Aber zweifelsohne besaß sie die seltene Gabe, von jedem der Kinder, die ihrer Obhut anvertraut waren, angebetet zu werden. Sie schien vollkommen die Verwirrung und die Angst zu verstehen, die Kinder so oft überfällt, wenn sie das erste Mal im Leben in einen Klassenraum gepfercht werden und gehorchen müssen. Irgendeine seltsame Wärme, die man fast spüren konnte, leuchtete aus Fräulein Honigs Gesicht, wenn sie mit einem verwirrten Neuankömmling in der Klasse sprach, der schon Heimweh hatte.
Fräulein Knüppelkuh, die Schulleiterin, war vollkommen anders. Sie war ein Riesenweib, ein heiliger Schrecken, ein wildes tyrannisches Ungeheuer, das Kinder und Lehrer gleichermaßen in Panik versetzte. Selbst aus der Entfernung hatte sie etwas Drohendes, und wenn sie einem dicht auf den Leib rückte, konnte man ihre gefährliche Hitze so wahrnehmen, als ob sie ein Stück glühendes Eisen wäre. Wenn sie marschierte – Fräulein Knüppelkuh ging niemals, sondern marschierte immer wie eine Sturmtruppe mit langen Schritten und schwingenden Armen –, wenn sie also einen Korridor entlangmarschierte, konnte man sie tatsächlich bei jedem Schritt schnauben hören, und wenn ihr einmal eine Kinderschar im Wege war, pflügte sie sich querbeet durch wie ein Panzer, so daß die Kleinen nach rechts und links zur Seite spritzten. Gott sei Dank stoßen wir auf dieser Welt auf nicht allzu viele ihresgleichen, aber es gibt sie, sie existieren, und keinem von uns wird es erspart, mindestens einmal im Leben auf so eine Person zu stoßen. In diesem Fall kann ich euch nur raten, genauso zu verfahren, als ob ihr im Busch einem wütenden Rhinozeros begegnet – rennt zum nächsten Baum, klettert rauf und bleibt dort, bis es weg ist. Es ist fast unmöglich, dieses Weib samt all seinen Verrücktheiten zu beschreiben, aber ich werde später noch einmal den schwachen Versuch dazu machen. Jetzt wollen wir sie für einen Augenblick in Ruhe lassen und zu Matilda zurückkehren und zu ihrem ersten Tag in Fräulein Honigs Klasse.
Nachdem Fräulein Honig wie üblich die Namen aller Kinder vorgelesen hatte, teilte sie funkelnagelneue Übungshefte aus.
«Ich hoffe, ihr habt alle eure eigenen Bleistifte mitgebracht», sagte sie.
«Ja, Fräulein Honig», antworteten sie im Chor.
«Gut. Dies ist also euer erster Schultag. Er ist der Anfang von mindestens elf langen Jahren des Lernens, die ihr hinter euch bringen müßt. Und sechs von diesen Jahren werdet ihr in Mahlheim Hall verbringen, wo, wir ihr ja wißt, Fräulein Knüppelkuh eure Rektorin ist. Ich möchte euch zu eurem eigenen Nutzen etwas zu Fräulein Knüppelkuh sagen. Sie besteht darauf, daß an der ganzen Schule strengste Disziplin herrscht, und wenn ich euch einen Rat geben darf, so wäre es nur zu eurem Besten, wenn ihr euch in ihrer Gegenwart mustergültig benehmt. Kein Trotz. Niemals widersprechen. Immer parieren. Wenn ihr Fräulein Knüppelkuh gegen euch aufbringt, dann kann sie euch wie eine Mohrrübe durchs Schnitzelwerk treiben. Da gibt’s gar nichts zu lachen, Lavendel. Auch nichts zu grinsen. Ihr solltet euch alle miteinander hinter die Ohren schreiben, daß Fräulein Knüppelkuh mit jedem, der aus der Reihe tanzt, sehr, sehr streng verfahren wird. Habt ihr das verstanden?»
«Ja, Fräulein Honig», zirpten achtzehn eifrige kleine Stimmen.
«Ich selber», fuhr Fräulein Honig fort, «möchte euch soviel wie möglich beibringen, solange ihr in meiner Klasse seid. Ich weiß nämlich, daß das für euch die Dinge später leichter machen wird. Ich erwarte zum Beispiel, daß jeder bis zum Wochenende das Einmalzwei auswendig lernt. In einem Jahr könnt ihr dann hoffentlich das ganze Einmaleins bis zum Einmalzwölf. Wenn ihr das schafft, wird es euch ganz ungeheuer weiterbringen. Also, hat einer von euch zufällig schon das Einmalzwei gelernt?»
Matilda meldete sich. Sie war die einzige.
Fräulein Honig betrachtete eingehend das kleine Mädchen mit den dunklen Haaren und dem runden Gesicht, das in der zweiten Reihe saß.
«Wunderbar», sagte sie, «bitte steh auf und sag es uns auf, so weit du kannst.»
Matilda stand auf und begann das Einmalzwei aufzusagen. Als sie zu zwei mal zwölf ist vierundzwanzig kam, machte sie nicht Schluß. Sie fuhr einfach fort, «zwei mal dreizehn ist sechsundzwanzig, zwei mal vierzehn ist achtundzwanzig, zwei mal fünfzehn ist dreißig, zwei mal sechzehn ist...»
«Halt!» sagte Fräulein Honig. Sie hatte wie gebannt diesem fehlerlosen Vortrag zugehört, und jetzt fragte sie: «Wie weit kannst du denn weiterrechnen?»
«Wie weit?» fragte Matilda. «Das weiß ich nicht genau, Fräulein Honig. Ich glaube, noch ein ganzes Stück.»
Fräulein Honig brauchte ein paar Augenblicke, um diese merkwürdige Feststellung zu verarbeiten. «Du meinst also», sagte sie, «daß du mir sagen könntest, wieviel zwei mal achtundzwanzig ist?»
«Ja, Fräulein Honig.»
«Und wieviel ist das?»
«Sechsundfünfzig, Fräulein Honig.»
«Und wenn wir es etwas schwieriger machen, zum Beispiel zwei mal vierhundertsiebenundachtzig? Könntest du mir das auch ausrechnen?»
«Ich glaube ja», erwiderte Matilda.
«Bist du ganz sicher?»
«Aber ja, Fräulein Honig, ich bin ziemlich sicher.»
«Wieviel ist also zwei mal vierhundertsiebenundachtzig?»
«Neunhundertvierundsiebzig», erwiderte Matilda wie aus der Pistole geschossen. Sie sprach ruhig und höflich und ohne die geringste Spur von Angabe.
Fräulein Honig starrte Matilda vollkommen fassungslos an, aber als sie den Mund wieder aufmachte, klang ihre Stimme gefaßt. «Das ist wirklich fabelhaft», sagte sie, «aber mit zwei zu multiplizieren, ist natürlich viel leichter als mit höheren Zahlen. Wie steht’s denn mit dem Rest vom Einmaleins? Kannst du da noch etwas?»
«Ich glaube schon, Fräulein Honig. Ich glaube ja.»
«Was denn, Matilda. Wie weit bist du gekommen?»
«Ich... Ich weiß nicht genau», entgegnete Matilda, «ich weiß nicht, was Sie meinen.»
«Ich wollte nur wissen, ob du zufällig auch das Einmaldrei kannst?»
«Ja, Fräulein Honig.»
«Und das Einmalvier?»
«Ja, Fräulein Honig.»
«Also, wie viele Einmaleinse kannst du denn, Matilda? Alle bis zum Einmalzwölf?»
«Ja, Fräulein Honig.»
«Wieviel ist sieben mal zwölf?»
«Vierundachtzig», antwortete Matilda.
Fräulein Honig hielt inne und lehnte sich in ihrem Stuhl hinter dem einfachen Tisch zurück, der mitten vor der Klasse stand. Sie war durch dieses Frage- und Antwort-Spiel ziemlich durcheinander, aber sie hütete sich, es zu zeigen. Sie war noch nie auf eine Fünfjährige, ja, nicht mal auf eine Zehnjährige gestoßen, die mit solcher Leichtigkeit multiplizieren konnte.
«Ich hoffe, daß ihr andern gut zugehört habt», sagte sie zur Klasse. «Matilda ist ein wahrer Glückspilz. Sie hat wunderbare Eltern, die ihr schon das Malnehmen beigebracht haben. Ist es deine Mutter gewesen, Matilda?»
«Nein, Fräulein Honig, die war’s nicht.»
«Dann mußt du einen großartigen Vater haben. Er muß ein erstklassiger Lehrer sein.»
«Nein, Fräulein Honig», antwortete Matilda ruhig, «mein Vater hat mir nichts beigebracht.»