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Roald Dahl - Matilda

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«Wovon schwafelst du denn, verflixt noch mal, du dumme Kuh?» schrie Herr Wurmwald und packte die Krempe seines Hutes, damit keiner mehr daran zerren konnte. «Hältst du mich für so blöde, daß ich mir dieses Ding mit Absicht auf den Kopf klebe?»

Matilda sagte: «Da unten an der Straße wohnt ein Junge, der hat ein bißchen Sekundenkleber an den Finger gekriegt, ohne es zu merken, und dann hat er den Finger in die Nase gesteckt.»



Herr Wurmwald fuhr zusammen. «Und was ist mit ihm passiert?» stotterte er.

«Der Finger ist in seiner Nase festgeklebt», antwortete Matilda, «und er hat eine Woche lang so herumlaufen müssen. Die Leute haben immer zu ihm gesagt: Bohr doch nicht in der Nase, aber er konnte nichts dran machen. Er hat schrecklich albern ausgesehen.»

«Geschieht ihm recht», sagte Frau Wurmwald, «warum hat er auch den Finger in die Nase gesteckt. Das ist eine häßliche Angewohnheit. Wenn alle Kinder Sekundenkleber an den Fingern hätten, würden sie bald damit aufhören.»



Matilda sagte: «Erwachsene tun das aber auch, Mami. Ich hab gestern in der Küche gesehen, wie du in der Nase gebohrt hast.»

«Das reicht jetzt», sagte Frau Wurmwald und lief rosa an.

Herr Wurmwald mußte seinen Hut während des Abendessens vorm Fernsehapparat aufbehalten. Er sah lächerlich aus, und er verhielt sich ziemlich still.

Als er hinaufging, um schlafen zu gehen, versuchte er abermals, das Ding loszuwerden, und seine Frau versuchte es ebenfalls, aber der Hut dachte gar nicht daran, sich auch nur zu rühren. «Wie soll ich mich denn duschen?» fragte Herr Wurmwald.

«Das mußt du eben lassen, was denn sonst», sagte seine Frau. Und später, während sie ihren klapprigen kleinen Mann in seinem lilagestreiften Pyjama mit dem Pastetenhut auf dem Kopf trübselig durch das Schlafzimmer schleichen sah, fiel ihr auf, wie einfältig er aussah. Kaum einer von den Männern, von denen eine Ehefrau träumt, gestand sie sich ein.



Herrn Wurmwald fiel jedoch auf, daß das Schlimmste an einem Dauerhut auf dem Kopf die Notwendigkeit war, damit schlafen zu müssen. Es war unmöglich, sich gemütlich aufs Kissen zu legen. «Gib endlich Ruhe», sagte seine Frau, nachdem er sich ungefähr eine Stunde lang hin und her geworfen hatte. «Morgen früh ist er sicher lose, und dann rutscht er dir ganz leicht ab.»

Nichts war am Morgen lose, und nichts rutschte ganz leicht ab.

Deshalb nahm Frau Wurmwald eine Schere und schnitt ihm das Ding vom Schädel, Stück für Stück, zuerst den Deckel und dann die Krempe. Wo ihm das Schweißband an den Schläfen und am Hinterkopf festklebte, mußte sie ihm die Haare dicht über der Haut stutzen, so daß er zum Schluß mit einem kahlen, weißen Kranz um den Kopf dasaß wie ein Mönch. Vorn jedoch, wo das Schweißband direkt auf der nackten Haut klebte, blieben eine ganze Reihe von kleinen Lederflecken haften, die sich nicht abwaschen ließen, so oft er es auch versuchte.



Beim Frühstück sagte Matilda zu ihm: «Du mußt wirklich versuchen, diese Flecken von deiner Stirn zu kriegen, Vati. Jetzt sieht das so aus, als ob lauter kleine braune Insekten auf dir herumkrabbeln. Die Leute werden denken, du hättest Läuse.»

«Still!» fuhr sie der Vater an. «Und halt deinen vorlauten Mund gefälligst geschlossen, verstanden!»

Alles in allem ein höchst befriedigendes Probeunternehmen. Aber es wäre sicher vermessen, sich jetzt schon der Hoffnung hinzugeben, der Vater hätte eine dauerhafte Lehre daraus gezogen.



Das Gespenst

Nach der Sache mit dem Schnellkleber herrschte bei den Wurmwalds ungefähr eine Woche lang ein gemäßigter Frieden. Diese Erfahrung hatte Herrn Wurmwald ganz offensichtlich einen Dämpfer verpaßt, und er schien vorübergehend seine Vorliebe fürs Angeben und Anschnauzen verloren zu haben.

Dann schlug er plötzlich wieder zu. Vielleicht hatte er einen schlechten Tag in der Werkstatt gehabt und nicht genug Rostlauben verkauft. Es gibt vielerlei Kleinigkeiten, die einen Mann nervös machen, wenn er abends von der Arbeit nach Hause kommt, und eine kluge Frau spürt meistens die Sturmsignale und läßt ihn in Ruhe, bis er nur noch leise blubbert.

Als Herr Wurmwald an diesem betreffenden Abend aus seiner Garage nach Hause kam, dräute sein Antlitz düster wie eine Gewitterwolke, und es war klar, daß es ziemlich bald jemandem an den Kragen gehen würde. Seine Frau erkannte die Alarmzeichen sofort und machte sich dünn. Er aber schlenderte ins Wohnzimmer. Dort hatte sich Matilda gerade in dem Lehnsessel in der Ecke eingerollt und war vollkommen in ein Buch versunken. Herr Wurmwald stellte den Fernsehapparat an. Der Bildschirm wurde hell. Die Sendung plärrte los. Herr Wurmwald starrte Matilda an. Sie hatte sich nicht einmal geregt. Sie hatte sich unterdessen angewöhnt, ihre Ohren vor dem Getöse der Glotze vollkommen zu versperren. Sie las also einfach weiter, und aus einem unerklärlichen Grunde versetzte das ihren Vater in helle Wut. Vielleicht nährte es seinen Ärger noch, daß er sah, wie sie aus etwas Vergnügen gewann, das seinen Horizont überstieg.

«Mußt du denn immerzu lesen?» fuhr er sie an.

«Oh, hallo Vati», sagte sie freundlich, «hast du einen guten Tag gehabt?»

«Was ist das denn für ein Mist?» fragte er und riß ihr das Buch aus den Händen.

«Das ist kein Mist, Vati, das ist schön. Es heißt ‹Der rote Pony›, von John Steinbeck, einem amerikanischen Schriftsteller. Warum schaust du nicht einmal hinein, es würde dir gefallen.»

«Dreck», sagte Herr Wurmwald. «Wenn es von einem Ami stammt, ist es ganz bestimmt Dreck. Über was anderes schreiben die gar nicht.»



«Nein, Vati, es ist schön, ganz ehrlich. Es handelt von...»

«Ich will nicht wissen, wovon es handelt», bellte Herr Wurmwald. «Deine ewige Leserei geht mir sowieso schon auf den Wecker. Such dir doch endlich eine nützliche Beschäftigung.» Damit begann er plötzlich in rasender Geschwindigkeit, die Seiten, immer eine ganze Handvoll auf einmal, aus dem Buch zu reißen und sie in den Papierkorb zu schmeißen.



Matilda erstarrte vor Schreck. Der Vater wütete weiter, ganz ohne Frage von einer unbestimmten Eifersucht getrieben. Wie konnte sie es wagen, schien er bei jedem Rausriß einer Seite zu fragen, wie konnte sie es wagen, sich beim Bücherlesen zu amüsieren, wenn er nicht dazu imstande war? Wie konnte sie es nur wagen?

«Das ist ein Büchereibuch!» schrie Matilda. «Es gehört mir nicht. Ich muß es Frau Phelps zurückgeben!»

«Dann wirst du ein neues kaufen müssen, nicht wahr?» entgegnete der Vater und riß und riß die Seiten raus. «Du wirst dein Taschengeld aufheben müssen, bis du genug in der Sparbüchse hast, um deiner kostbaren Frau Phelps ein neues zu kaufen, nicht wahr?» Damit ließ er den unterdessen leeren Einband des Buches in den Papierkorb fallen und marschierte aus dem Zimmer, in dem der Fernsehapparat weiter lärmte.

Die meisten Kinder wären jetzt an Matildas Stelle in wahre Tränenschauer ausgebrochen. Sie dachte jedoch gar nicht daran. Sie saß vollkommen reglos und blaß und nachdenklich da. Sie schien genau zu begreifen, daß ihr weder Trotz noch Geheul etwas einbrachten. Die einzige vernünftige Reaktion auf einen Angriff ist, wie Napoleon einmal sagte, zurückzuschlagen. Matildas wunderbar wendiger Geist war schon damit beschäftigt, eine neue passende Bestrafung für dieses gemeingefährliche Elternteil zu entwerfen. Der Plan, den sie jetzt in ihrem Kopf auszubrüten begann, hing nur von der Frage ab, ob Freds Papagei tatsächlich so perfekt sprechen konnte, wie Fred behauptete.

Fred war Matildas Freund. Er war ein kleiner Junge von sechs Jahren, der eben um die Ecke wohnte, und seit Tagen hatte er von nichts anderem als von diesem großen sprechenden Papagei geredet, den ihm sein Vater geschenkt hatte. Sowie also Frau Wurmwald am kommenden Nachmittag mit ihrem Wagen zur nächsten Bingorunde verschwunden war, brach auch Matilda auf, um in Freds Haus die Lage zu klären. Sie klopfte an seine Tür und fragte, ob er so gut sein und ihr den berühmten Vogel zeigen könne. Fred war entzückt und führte sie hinauf in sein Schlafzimmer, wo ein wirklich prachtvoller blau-gelber Papagei in einem großen Käfig saß.

«Das ist er», verkündete Fred, «er heißt Hacker.»

«Laß ihn sprechen», sagte Matilda.

«Man kann ihn nicht sprechen lassen», entgegnete Fred, «man muß geduldig sein. Er redet, wenn er Lust dazu hat.»



Sie hingen also herum und warteten. Plötzlich sagte der Papagei: «Hallo, hallo, hallo!» Es klang genau wie eine Menschenstimme. Matilda sagte: «Das ist erstaunlich. Was kann er noch sagen?»

«Da klappern mir die Knochen!» sagte der Papagei, wobei er ganz schauerlich eine Geisterstimme nachahmte. «Da klappern mir die Knochen!»

«Das sagt er immer», erklärte Fred.

«Was kann er noch sagen?» erkundigte sich Matilda.

«Das war’s eigentlich», antwortete Fred, «aber das ist doch doll, findest du nicht?»

«Das ist fabelhaft», sagte Matilda. «Kannst du ihn mir für eine einzige Nacht leihen?»

«Nein», entgegnete Fred, «ganz ausgeschlossen.»

«Für mein Taschengeld von nächster Woche», sagte Matilda.

Das klang schon anders. Fred dachte ein paar Sekunden darüber nach. «Na, also gut», sagte er, «wenn du mir versprichst, daß du ihn morgen zurückbringst.»

Matilda wankte, den großen Käfig mit beiden Armen umklammernd, zu ihrem eigenen leeren Haus zurück. Im Eßzimmer gab es einen großen Kamin, und sie schickte sich jetzt an, den Käfig in die Esse hinaufzustemmen, so daß man ihn nicht mehr sehen konnte. Das war nicht ganz einfach, aber schließlich schaffte sie es. «Hallo, hallo, hallo!» kreischte der Vogel zu ihr hinunter. «Hallo!»

«Halt den Schnabel, du Idiot!» sagte Matilda, und dann ging sie hinaus, um sich den Ruß von den Händen zu waschen.



Während an diesem Abend die Mutter, der Vater, der Bruder und Matilda wie üblich im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat zu Abend aßen, klang eine Stimme laut und klar aus dem Eßzimmer jenseits der Halle. «Hallo, hallo, hallo!» sagte sie.

«Harry!» rief die Mutter und wurde schneeweiß. «Es ist jemand im Haus! Ich hab eine Stimme gehört!»

«Ich auch!» sagte der Bruder. Matilda sprang auf und schaltete den Fernsehapparat aus. «Pst!» machte sie. «Hört doch!»

Sie hörten alle auf zu essen und saßen gebannt und mit gespitzten Ohren da.

«Hallo, hallo, hallo!» erklang die Stimme abermals.

«Da, wieder!» rief der Bruder.

«Das sind Einbrecher!» zischte die Mutter. «Sie sind im Eßzimmer!»

«Das denk ich auch», sagte der Vater, der still und starr dasaß.

«Dann geh doch hin und fang sie, Harry!» drängte die Mutter. «Lauf rüber und ertappe sie auf frischer Tat!»

Der Vater rührte sich nicht. Er schien sich keineswegs beeilen und hinüberstürzen und ein Held sein zu wollen. Sein Gesicht hatte eine graue Farbe angenommen.

«Mach doch, los!» zischte die Mutter. «Sie wollen wahrscheinlich das Silber stehlen!»

Der Ehemann wischte sich nervös mit der Serviette über den Mund. «Warum gehen wir nicht alle hinüber und schauen nach?» fragte er.

«Na, dann los», sagte der Bruder. «Los, Mami.»

«Sie sind totensicher im Eßzimmer», wisperte Matilda, «ganz bestimmt.»

Die Mutter packte den Schürhaken vom Kamin. Der Vater griff nach einem Golfschläger, der in einer Ecke lehnte. Der Bruder schnappte sich die Tischlampe und riß den Stecker aus der Wand. Matilda nahm das Messer, mit dem sie gegessen hatte, und so schlichen sich die vier zur Tür des Eßzimmers, wobei sich der Vater gehörig hinter den anderen hielt.



«Hallo, hallo, hallo!» erklang die Stimme wieder.

«Los!» schrie Matilda und stürmte in das Zimmer, wobei sie mit ihrem Messer in der Luft herumfuchtelte. «Hände hoch!» schrie sie. «Wir haben euch erwischt!»

Die anderen folgten ihr und schwangen ihre Waffen. Dann hielten sie inne. Sie starrten in alle Ecken. Niemand war da.

«Hier ist keiner», stellte der Vater sehr erleichtert fest.

«Ich hab ihn aber gehört, Harry!» schrie die Mutter, die immer noch am ganzen Leibe zitterte. «Ich hab doch seine Stimme gehört! Ganz genau! Und du auch!»

«Sicher, ich hab ihn gehört!» rief Matilda. «Er muß hier noch irgendwo sein!» Sie begann hinter dem Sofa und hinter den Gardinen rumzustöbern.

Dann erklang die Stimme noch einmal, diesmal ganz weich und geisterhaft. «Da klappern mir die Knochen», sagte sie. «Da klappern mir die Knochen.»

Sie zuckten alle zusammen, auch Matilda, die eine recht gute Schauspielerin war. Sie suchten den ganzen Raum mit den Augen ab. Immer noch war keiner da.

«Das ist ein Gespenst», sagte Matilda.

«Der Himmel steh uns bei!» kreischte die Mutter und klammerte sich am Hals ihres Mannes fest.

«Ich weiß genau, daß es ein Gespenst ist!» sagte Matilda. «Ich hab es hier schon mal gehört. Das ist ein Gespensterzimmer. Ich dachte, ihr hättet das gewußt.»

«Hilf Himmel!» schrie die Mutter und erdrosselte fast ihren Gatten.

«Ich will hier raus», sagte der Vater, aschgrauer denn je. Sie stürzten in wilder Flucht hinaus und schlugen die Tür hinter sich zu.

Am nächsten Nachmittag gelang es Matilda, einen ziemlich verrußten und mürrischen Papagei wieder aus dem Kamin zu zerren und ungesehen aus dem Haus zu schaffen. Sie schleppte ihn durch die Hintertür und rannte mit ihm die ganze Strecke bis zu Freds Haus.

«Hat er sich gut benommen?» fragte Fred.

«Es war eine reizende Visite», antwortete Matilda, «meine Eltern waren ganz hin.»


Arithmetik

Matilda wünschte sich sehnlichst, daß ihre Eltern gütig und liebevoll und verständnisvoll und ehrenwert und intelligent wären. Die Tatsache, daß sie keine von diesen Eigenschaften besaßen, machte ihr schwer zu schaffen. Es fiel ihr nicht leicht, sich damit abzufinden. Aber das neue Spiel, das sie sich ausgedacht hatte, um einen oder beide jedesmal zu bestrafen, wenn sie gemein zu ihr gewesen waren, machte ihr das Leben mehr oder weniger erträglich.

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