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Roald Dahl - Matilda

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Was Matilda anbelangte, sie blieb reglos an ihrem Pult sitzen. Sie fühlte sich merkwürdig leicht. Ihr kam vor, als hätte sie etwas berührt, was nicht ganz von dieser Welt war, den höchsten Punkt des Himmels, den fernsten Stern. Sie hatte fast wie ein Wunder gespürt, wie sich die Kraft hinter ihren Augen sammelte, wie sie ihr wie ein warmer Strom durch den Kopf floß, ihre Augen waren glühendheiß geworden, heißer denn je, und es war aus ihren Augenhöhlen herausgeschossen, daß sich die Schulkreide ganz von allein gehoben und angefangen hatte zu schreiben. Ihr war so, als hätte sie selber kaum etwas getan, alles war ganz einfach gewesen.

Die Hausmutter kam mit einem Gefolge aus fünf Lehrern, drei Frauen und zwei Männern, in das Klassenzimmer gestürzt.

«Donnerwetter, hat sie endlich doch einer zu Boden gestreckt!» rief einer der Männer und grinste. «Ich gratuliere, Fräulein Honig!»

«Wer hat das Wasser auf sie gegossen?» fragte die Hausmutter.

«Ich», antwortete Nigel stolz.

«Ausgezeichnet», sagte ein zweiter Lehrer, «sollen wir noch mehr holen?»

«Schluß damit», befahl die Hausmutter, «wir können sie ins Krankenzimmer transportieren.»

Alle fünf Lehrer und die Hausmutter mußten anpacken, um das gewaltige Weib in die Höhe zu wuchten und sie, unter ihrem Gewicht schwankend, aus dem Klassenzimmer zu tragen.

Fräulein Honig sagte zu den Kindern: «Ich glaube, ihr lauft jetzt am besten auf den Hof hinaus und spielt bis zur nächsten Unterrichtsstunde.» Dann drehte sie sich um, ging zur Tafel und wischte die Kreidebuchstaben sorgfältig ab.

Die Kinder fingen an, nacheinander aus der Klasse zu laufen. Matilda wollte sich ihnen anschließen, aber als sie an Fräulein Honig vorbeikam, blieb sie stehen und zwinkerte ihrer Lehrerin zu. Da rannte Fräulein Honig auf sie zu, schloß das kleine Mädchen heftig in die Arme und gab ihr einen Kuß.


Ein neues Zuhause

Im Laufe des Tages verbreitete sich die Nachricht, daß Fräulein Knüppelkuh wieder zu sich gekommen und mit verkniffenem Mund und schneeweißem Gesicht aus der Schule marschiert sei.

Am nächsten Morgen ließ sie sich dort nicht blicken. In der Mittagspause rief Herr Trilby, der stellvertretende Schulleiter, bei ihr zu Hause an, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Es nahm jedoch niemand den Hörer ab.

Als die Schule zu Ende war, beschloß Herr Trilby, etwas gründlicher nachzuforschen, und machte sich auf den Weg zu dem Haus, in dem Fräulein Knüppelkuh am Rande der Ortschaft lebte. Ein hübsches kleines altes Haus aus rotem Backstein, das deshalb als das Rote Haus bekannt war. Es lag hinter den Hügeln ganz versteckt im Wald.

Er zog an der Glocke. Keine Antwort.

Er klopfte kräftig. Keine Antwort.

Er rief laut: «Ist jemand zu Hause?» Keine Antwort.

Er rüttelte versuchsweise an der Klinke und stellte zu seinem Erstaunen fest, daß die Tür nicht verschlossen war. Er trat ein.

Das Haus lag in tiefem Schweigen und war vollkommen verlassen. Alle Möbel standen jedoch an ihrem Platz. Herr Trilby ging hinauf und schaute in das große Schlafzimmer. Auch hier schien alles ganz normal zu sein, bis er anfing, Schubladen aufzuziehen und in Schränke zu blicken. Nirgends mehr fanden sich Kleider oder Unterwäsche oder Schuhe. Sie waren samt und sonders verschwunden.

Sie ist verduftet, sagte sich Herr Trilby und machte kehrt, um die Schulverwaltung davon zu informieren, daß die Rektorin ganz offensichtlich verschwunden war.

Am übernächsten Morgen erhielt Fräulein Honig einen eingeschriebenen Brief von einer Rechtsanwaltsfirma. Darin wurde sie davon unterrichtet, daß das Testament, der Letzte Wille ihres verblichenen Vaters Dr. Honig, plötzlich und unter geheimnisvollen Umständen wiederaufgetaucht sei. Dieses Dokument enthüllte nun, daß in Wirklichkeit Fräulein Honig seit dem Tod ihres Vaters die rechtmäßige Besitzerin des Anwesens am Stadtrand war, als das Rote Haus bekannt, in dem bis vor kurzem ein gewisses Fräulein Agatha Knüppelkuh gewohnt hatte. Dieses Dokument bewies weiterhin, daß die Ersparnisse ihres Vaters, die glücklicherweise immer noch unangetastet und sicher in der Bank ruhten, ihr ebenfalls vermacht worden waren. Der Rechtsanwalt schloß seinen Brief mit der Bitte, Fräulein Honig möge ihn doch so bald wie möglich in seiner Kanzlei aufsuchen. Dann könne er nämlich das Anwesen und das Geld in kürzester Zeit auf ihren Namen umschreiben.

Genauso machte es Fräulein Honig, und innerhalb von ein paar Wochen war sie in das Rote Haus gezogen, genau an den Ort, an dem sie aufgewachsen war und wo sie glücklicherweise all die Familienmöbel und Bilder noch vorfand.

Von da an war Matilda an jedem Nachmittag nach der Schule ein stets willkommener Gast im Roten Haus, und zwischen der Lehrerin und dem kleinen Mädchen begann sich eine innige Freundschaft zu entwickeln.

Auch in der Schule fanden große Veränderungen statt. Sobald es klar wurde, daß Fräulein Knüppelkuh vollkommen von der Bildfläche verschwunden war, wurde der verdienstvolle Herr Trilby an ihrer Stelle zum Schulleiter ernannt. Und bald danach wurde Matilda in die oberste Klasse versetzt, wo Fräulein Plimbim ziemlich rasch entdeckte, daß dieses erstaunliche Kind in jeder Hinsicht so aufgeweckt war, wie es Fräulein Honig behauptet hatte.

Ein paar Wochen später trank Matilda eines Nachmittags ihren Tee bei Fräulein Honig in der Küche vom Roten Haus, so wie sie es immer nach der Schule zu tun pflegten, als Matilda plötzlich sagte: «Mir ist etwas Komisches zugestoßen, Fräulein Honig.»

«Na, dann erzähl’s mir», sagte Fräulein Honig.

«Heute früh», sagte Matilda, «hab ich einfach aus Spaß probiert, irgend etwas mit meinen Augen in Bewegung zu setzen, und das hab ich nicht geschafft. Nichts hat sich geregt. Ich hab nicht einmal diese Hitze gespürt, die immer hinter meinen Augäpfeln entsteht. Die Kraft ist weg. ich glaube, ich hab sie ganz und gar verloren.»

Fräulein Honig bestrich sorgfältig eine Scheibe Graubrot mit Butter und kleckste etwas Erdbeermarmelade darauf. «Mit so etwas Ähnlichem hab ich schon gerechnet», sagte sie.

«Ach wirklich? Warum denn?» fragte Matilda.

«Na ja», antwortete Fräulein Honig, «es ist nur eine Vermutung, aber ich will dir sagen, was ich mir gedacht habe. Solange du in meiner Klasse warst, hast du nichts zu tun gehabt, hast um nichts kämpfen müssen. Dein Verstand ist dabei vor lauter Langeweile geradezu verrückt geworden. Es muß in deinem Kopf wie wild geblubbert und gekocht haben, und es haben sich einfach unermeßliche Kräfte angesammelt, die kein Ziel und keinen Sinn gehabt haben. Aber irgendwie muß es dir gelungen sein, diese Kraft durch deine Augen zu schießen und sie Gegenstände bewegen zu lassen. Aber jetzt hat sich die Lage geändert. Du bist in der obersten Klasse, und du hast es mit Kindern zu tun, die mehr als doppelt so alt sind wie du. Du brauchst also all deine Geisteskräfte für die Schule. Dein Verstand ist zum erstenmal richtig gefordert, muß sich anstrengen und wird in Bewegung gehalten, und das ist großartig. Freilich, das ist nur eine Theorie, vielleicht sogar eine ziemlich dummerhafte, aber mir kommt es doch so vor, als ob sie ziemlich die Wahrheit träfe.»



«Ich bin froh, daß das passiert ist», sagte Matilda, «ich wäre nicht gern als Wundertäter durchs Leben gewandert.»

«Du hast auch genug bewirkt», sagte Fräulein Honig. «Ich kann immer noch nicht richtig glauben, was du alles für mich getan hast.»

Matilda, die auf einem hohen Hocker am Küchentisch saß, kaute bedächtig ihr Marmeladenbrot. Sie genoß diese Nachmittage mit Fräulein Honig aus ganzem Herzen. Sie fühlte sich in ihrer Gegenwart vollkommen entspannt und glücklich, und die beiden unterhielten sich so miteinander, als ob sie mehr oder weniger gleichgestellt wären.

«Wissen Sie eigentlich», sagte Matilda, «daß ein Mäuseherz sechshundertfünfzigmal in der Minute schlägt?»

«Nein», erwiderte Fräulein Honig und lächelte, «das ist ja faszinierend. Wo hast du das gelesen?»

«In einem Buch aus der Bücherei», antwortete Matilda, «und das bedeutet, es schlägt so schnell, daß man die einzelnen Schläge gar nicht hören kann. Es muß einfach wie ein Summen klingen.»

«Wahrscheinlich», entgegnete Fräulein Honig.

«Und wie schnell schlägt Ihrer Meinung nach das Herz eines Igels?» fragte Matilda.

«Verrat es mir», sagte Fräulein Honig und lächelte wieder.

«Längst nicht so schnell wie bei einer Maus», erklärte Matilda, «nur dreihundertmal pro Minute. Aber trotzdem, hätten Sie gedacht, daß es so schnell schlägt bei einem Tier, das sich so langsam bewegt, hätten Sie das vermutet, Fräulein Honig?»

«Ganz gewiß nicht», antwortete Fräulein Honig, «erzähl mir weiter davon.»

«Beim Pferd», sagte Matilda, «da pocht es richtig langsam. Nur vierzigmal in einer Minute.»

Dieses Kind, sagte sich Fräulein Honig, scheint an allem interessiert zu sein. Wenn man mit ihm zusammen ist, dann kann man sich unmöglich langweilen. Wie ich das liebe!

Die beiden blieben noch eine Stunde oder länger in der Küche sitzen und unterhielten sich, und dann, so gegen sechs, sagte Matilda guten Abend und machte sich auf den Heimweg zu ihrem Elternhaus, das etwa acht Minuten entfernt lag.

Als sie vor ihrem Gartentor ankam, sah sie, daß ein großer schwarzer Mercedes davor parkte. Sie kümmerte sich nicht sonderlich darum. Vor dem Haus ihres Vaters standen oft die merkwürdigsten Autos. Als sie jedoch das Haus betrat, platzte sie in eine vollkommen chaotische Szene. Ihre Mutter und ihr Vater waren beide in der Halle und stopften wie die Wilden Kleider und alle möglichen Sachen in Koffer und Taschen.

«Was ist denn um Himmels willen hier los?» rief sie. «Was ist denn passiert, Vati?»

«Wir hauen ab», sagte Herr Wurmwald, ohne aufzuschauen. «In einer halben Stunde geht’s los, zum Flughafen, also fang lieber an zu packen. Dein Bruder ist oben, schon reisefertig. So setz dich doch in Bewegung, Mädchen! Mach los!»

«Wegfliegen?» schrie Matilda auf. «Wohin denn?»

«Spanien», sagte ihr Vater. «Hat ein besseres Klima als dieses lausige Land hier.»

«Spanien!» rief Matilda. «Ich will aber nicht nach Spanien! Ich bin gerne hier! Und ich liebe meine Schule!»

«Mach, was ich dir sage, und Schluß mit den Widerworten!» fuhr sie ihr Vater an. «Ich hab schon genug am Hals, da will ich mich nicht auch noch mit dir rumärgern müssen.»

«Aber Vati...» begann Matilda.



«Halt’s Maul», schrie der Vater, «in dreißig Minuten brechen wir auf. Ich will mein Flugzeug nicht verpassen!»

«Aber für wie lange denn, Vati?» rief Matilda. «Wann kommen wir denn zurück?»

«Überhaupt nicht», fauchte der Vater, «und jetzt zisch ab! Ich hab zu tun!»

Matilda drehte sich um und ging durch die offene Haustür wieder hinaus. Sobald sie auf der Straße war, fing sie an zu rennen. Sie sauste geradewegs zu Fräulein Honigs Haus zurück und erreichte es in weniger als vier Minuten. Sie flog den Gartenweg entlang, und dann sah sie plötzlich Fräulein Honig im Vordergarten, wie sie mitten in einem Rosenbeet stand und irgend etwas mit einer Heckenschere machte. Fräulein Honig hatte Matildas schnelle Schritte auf dem Kies knirschen hören, und während das Kind auf sie zustürzte, richtete sie sich auf, drehte sich um und trat aus dem Rosenbeet.

«Du meine Güte», sagte sie, «was ist denn um Himmels willen nur los?»

Matilda stand keuchend vor ihr, ganz außer Atem, das kleine Gesicht rot wie eine Pfingstrose.

«Sie gehen weg!» schrie sie. «Sie haben alle den Verstand verloren und stopfen ihre Koffer voll, und in einer halben Stunde brechen sie auf, nach Spanien!»

«Wer denn?» fragte Fräulein Honig ruhig.

«Mami und Vati und mein Bruder Michael, und sie sagen, ich muß mit ihnen kommen!»

«Du meinst in die Ferien?» fragte Fräulein Honig.

«Für immer!» schrie Matilda. «Vati sagt, wir kommen nie und nimmer zurück!»

Nach einer kurzen Pause bemerkte Fräulein Honig: «Ehrlich gesagt, das überrascht mich nicht.»

«Wollen Sie sagen, Sie hätten gewußt, daß sie weggehen?» schluchzte Matilda. «Warum haben Sie mir denn nichts davon gesagt?»

«Nein, Liebes», sagte Fräulein Honig, «ich habe nicht gewußt, daß sie weggehen. Aber die Nachricht verblüfft mich trotzdem nicht.»

«Wieso denn?» rief Matilda. «Sagen Sie mir doch, warum.» Sie war immer noch vollkommen außer Atem von der Rennerei und vor allem vor Schreck.

«Weil dein Vater», sagte Fräulein Honig, «mit einem Haufen Gauner im Bunde ist. Das weiß jeder hier im Ort. Ich vermute, daß er gestohlene Autos aus dem ganzen Land abgenommen hat. Er steckt bis über die Ohren drin.»

Matilda starrte sie mit offenem Mund an.

Fräulein Honig fuhr fort: «Die Leute haben deinem Vater gestohlene Autos in die Werkstatt gebracht, und er hat dort die Nummernschilder ausgewechselt und die Karosserie mit einer anderen Farbe gespritzt und so weiter. Und jetzt hat ihn wahrscheinlich jemand verpfiffen, und die Polizei sitzt ihm auf den Fersen, und da macht er das, was sie alle machen: er haut ab nach Spanien, wo sie ihn nicht erwischen können. Er wird sicher schon seit Jahren sein ganzes Geld dorthin geschafft haben, und jetzt kann er sich ins gemachte Nest setzen.»

Sie standen auf dem Rasen vor dem schönen roten Backsteinhaus mit seinen verwitterten alten roten Dachschindeln und den hohen Schornsteinen, und Fräulein Honig hatte immer noch die Gartenschere in der Hand.

Es war ein milder, goldener Abend, und irgendwo in der Nähe schlug eine Amsel.

«Ich will nicht mit denen weggehen!» rief Matilda plötzlich. «Ich will nicht weg mit ihnen.»

«Ich fürchte, du mußt», sagte Fräulein Honig.

«Ich möchte hier bei Ihnen wohnen», rief Matilda aus. «Ach bitte, erlauben Sie mir doch, bei Ihnen zu wohnen.»

«Ich wünschte wirklich, das ginge», entgegnete Fräulein Honig, «aber das ist leider nicht möglich. Du kannst deine Eltern nicht einfach so verlassen. Sie haben ein Recht darauf, dich mitzu­nehmen.»

«Aber wenn sie damit einverstanden sind?» rief Matilda aufgeregt. «Wenn sie vielleicht ja sagen, ich könnte bei Ihnen bleiben? Würden Sie mich dann nehmen?»

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