Roald Dahl - Matilda
«Ich auch nicht», sagte Matilda. Sie schien sich in ihrer Weisheit vollkommen der heiklen Lage bewußt zu sein und gab sich große Mühe, nichts zu sagen, was ihre Gefährtin in Verlegenheit bringen könnte.
«Wir wollen den Tee im Wohnzimmer trinken», schlug Fräulein Honig vor, nahm das Tablett und ging vor, aus der Küche heraus durch den dunklen kleinen Tunnel hinüber in das Vorderzimmer. Matilda folgte ihr, aber in der Tür des sogenannten Wohnzimmers blieb sie wie festgenagelt stehen und schaute sich starr vor Staunen um. Der Raum war so klein, rechteckig und kahl wie eine Gefängniszelle. Das schwache Tageslicht, das hereinschien, kam durch ein winziges Fenster an der Vorderfront, vor dem keine Vorhänge hingen. Die einzigen Gegenstände in dem ganzen Raum waren zwei umgedrehte Holzkisten, die als Stühle dienten, und dazwischen eine dritte Kiste als Tisch. Das war alles. An den Wänden hingen keine Bilder, auf dem Boden lag kein Teppich, man sah nur die rohen Dielenbretter, und in den Ritzen dazwischen hatten sich Staubflocken und Dreckkrümel angesammelt. Die Decke war so niedrig, daß Matilda nur hätte hochzuspringen brauchen, schon hätte sie sie mit den Fingerspitzen berührt. Die Wände waren weiß, aber es sah nicht wie Farbe aus. Matilda rieb mit der flachen Hand darüber, und ein weißer Staub blieb daran haften. Es war Tünche, die einfache Kalkmilch, die man zum Weißen von Scheunen, Kuh- und Hühnerställen benutzt.
Matilda war verstört. Wohnte ihre ordentliche und immer so adrett gekleidete Lehrerin wirklich hier? Mußte sie nach ihrer Tagesarbeit immer hierher zurückkehren? Das war unglaublich. Und was konnte es für einen Grund dafür geben? Dahinter mußte etwas ganz Merkwürdiges stecken.
Fräulein Honig stellte das Tablett auf eine der hochkant gestellten Kisten. «Setz dich, mein Liebes, setz dich doch», sagte sie, «und dann wollen wir eine schöne Tasse Tee trinken. Nimm dir ein Stück Brot. Die beiden Scheiben sind für dich. Ich nehme nie etwas zu mir, wenn ich nach Hause komme. Ich greife mittags in der Schule tüchtig zu, und das reicht mir dann bis zum nächsten Morgen.»
Matilda ließ sich vorsichtig auf einer umgekippten Kiste nieder, griff mehr aus Höflichkeit nach einem Stück Margarinebrot und fing an, es zu essen. Zu Hause hätte sie Toast mit Butter und Erdbeermarmelade bekommen und zum Abschluß wahrscheinlich noch ein Stück Biskuittorte. Trotzdem machte ihr dies hier sehr viel mehr Spaß. Es gab ein Geheimnis in diesem Haus. Ein großes Geheimnis, das stand außer Zweifel, und Matilda platzte geradezu vor Neugier. Sie wollte herausfinden, was das für ein Geheimnis war.
Fräulein Honig schenkte den Tee ein und goß in jede Tasse ein wenig Milch. Es schien ihr nicht das geringste auszumachen, in einem kahlen Raum auf einer umgekehrten Kiste zu sitzen und Tee aus einem Becher zu trinken, den sie auf ihren Knien balancierte.
«Weißt du», sagte sie, «ich habe über das, was du mit dem Glas gemacht hast, sehr gründlich nachgedacht. Du weißt sicher, mein Kind, daß dir eine große Macht verliehen worden ist.»
«Ja, Fräulein Honig, das weiß ich», antwortete Matilda und kaute ihr Margarinebrot.
«Soviel ich weiß», fuhr Fräulein Honig fort, «hat bis jetzt noch keiner in der Weltgeschichte einen Gegenstand bewegen können, ohne daß er ihn berührt oder dagegengepustet oder irgendeine andere fremde Hilfe in Anspruch genommen hätte.»
Matilda nickte schweigend.
«Es wäre faszinierend», sagte Fräulein Honig, «wenn man die wirkliche Grenze deiner Kraft herausbekommen könnte. Ja, ja, ich weiß, du bildest dir ein, du könntest einfach alles in Bewegung setzen, was es gibt, aber gerade da habe ich meine Zweifel.»
«Ich würde wahnsinnig gerne irgend etwas Riesiges versuchen», sagte Matilda.
«Wie ist es mit der Entfernung?» fragte Fräulein Honig. «Mußt du immer dicht bei dem Gegenstand sein, den du bewegst?»
«Das weiß ich einfach nicht», antwortete Matilda, «aber es würde mir Spaß machen, das auszuprobieren.»
Fräulein Honigs Geschichte
«Wir sollten das nicht übereilen», sagte Fräulein Honig, «laß uns lieber noch eine Tasse Tee trinken. Und iß die zweite Scheibe Brot. Du mußt doch hungrig sein.»
Matilda nahm sich die zweite Schnitte und fing an, sie langsam und bedächtig zu kauen. Die Margarine schmeckte gar nicht so schlecht. Sie bezweifelte, ob sie den Unterschied gemerkt hätte, wenn sie’s nicht gewußt hätte. «Fräulein Honig», sagte sie plötzlich, «werden Sie in unserer Schule so schlecht bezahlt?»
Fräulein Honig warf ihr einen wachsamen Blick zu. «Es geht», sagte sie, «ich bekomme ungefähr genausoviel wie die anderen.»
«Aber wenn Sie so schrecklich arm sind, muß das doch ziemlich wenig sein», sagte Matilda. «Leben alle Lehrer so wie Sie, ohne Möbel und Kochherd und Badezimmer?»
«Nein, das nicht», antwortete Fräulein Honig ziemlich steif, «ich bin nur zufällig eine Ausnahme.»
«Wahrscheinlich mögen Sie gerne ganz einfach leben», sagte Matilda, indem sie sich noch weiter vorwagte. «Es muß den Hausputz sehr viel einfacher machen, und Sie brauchen keine Möbel abzuledern und sich nicht um diese albernen kleinen Nippsachen zu kümmern, die überall rumstehen und die man jeden Tag abstauben muß. Und wenn man keinen Kühlschrank hat, dann muß man wahrscheinlich auch gar nicht aus dem Haus gehen und all dieses Zeug kaufen, Eier und Mayonnaise und Eiscreme, um den Kühlschrank vollzukriegen. Ja, man kann sich diese ganze Einkauferei sparen.»
An dieser Stelle merkte Matilda, wie sich Fräulein Honigs Gesicht verkrampfte und einen sonderbaren Ausdruck annahm. Ihr ganzer Körper war angespannt, die Schultern hochgezogen, die Lippen zusammengepreßt, so saß sie da, umklammerte mit beiden Händen den Teebecher und starrte so verbissen hinein, als ob sie dort eine Antwort auf diese gar nicht so unschuldigen Fragen suchte.
Es folgte ein ziemlich langes und bedrückendes Schweigen. Innerhalb von einer halben Minute hatte sich die Atmosphäre in dem kleinen Raum vollkommen verändert und vibrierte jetzt vor Verlegenheit und Geheimnissen. Matilda sagte: «Bitte verzeihen Sie mir, daß ich Sie all das gefragt habe, Fräulein Honig. Es geht mich ja nichts an.»
Daraufhin riß sich Fräulein Honig zusammen. Sie straffte die Schultern und stellte den Becher sehr umständlich und behutsam auf das Tablett.
«Warum hättest du nicht fragen sollen?» sagte sie. «Irgendwann hättest du es ohnehin getan. Du bist viel zu aufgeweckt, um dir keine Gedanken zu machen. Vielleicht wollte ich sogar, daß du fragst. Vielleicht habe ich dich nur aus diesem Grund hierher eingeladen. Du bist nämlich der allererste Besucher, seit ich vor zwei Jahren in dieses Häuschen eingezogen bin.»
Matilda schwieg. Sie konnte spüren, wie die Spannung im Raum immer stärker wurde.
«Du bist für deine Jahre so einsichtsvoll, mein Liebes», fuhr Fräulein Honig fort. «Das bringt mich immer wieder durcheinander. Du siehst wie ein Kind aus, aber in Wirklichkeit bist du überhaupt kein Kind, weil dein Verstand und deine Geisteskräfte ganz erwachsen zu sein scheinen. Ich glaube, wir sollten dich als ein erwachsenes Kind bezeichnen, wenn du weißt, was ich meine.»
Matilda schwieg noch immer. Sie wartete auf das, was als nächstes kommen mußte.
«Bis jetzt», fuhr Fräulein Honig fort, «war es mir unmöglich, mit einem anderen Menschen über meine Probleme zu sprechen. Ich hatte Angst vor den Aufregungen, und mir hat immer der Mut gefehlt. Was ich an Mut besessen hatte, das ist mir schon ausgetrieben worden, als ich noch ganz klein war. Aber jetzt habe ich plötzlich so etwas wie den verzweifelten Wunsch, jemandem alles zu erzählen. Ich weiß, du bist nur ein Kind, ein kleines Mädchen, aber irgendwo steckt ein Zauber in dir. Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.»
Matilda wurde plötzlich sehr aufmerksam. Die Stimme, die sie hörte, rief ganz unverhüllt nach Hilfe. Ja, bestimmt. Es konnte gar nicht anders sein.
Dann erhob sich die Stimme wieder. «Willst du noch einen Schluck Tee?» sagte sie. «Ich glaube, es ist noch etwas da.»
Matilda nickte.
Fräulein Honig schenkte den Tee in die beiden Becher und gab etwas Milch hinzu. Wieder umschloß sie ihren Becher mit beiden Händen und trank mit kleinen Schlucken. Ein ziemlich langes Schweigen entstand, bis sie fragte: «Darf ich dir eine Geschichte erzählen?»
«Natürlich», antwortete Matilda.
«Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt», sagte Fräulein Honig, «und als ich geboren wurde, war mein Vater hier am Ort der Arzt. Wir hatten ein hübsches altes Haus, ziemlich groß, aus rotem Backstein. Es liegt ganz verborgen im Wald, hinter den Hügeln. Ich glaube, du kennst es gar nicht.»
Matilda schwieg.
«Dort bin ich geboren worden», fuhr Fräulein Honig fort, «und dann ereignete sich die erste Tragödie. Meine Mutter starb, als ich zwei Jahre alt war. Mein Vater hatte viel zu tun und brauchte jemanden, der das Haus führte und sich um mich kümmerte. Er lud also die unverheiratete Schwester meiner Mutter, meine Tante, ein, zu uns zu ziehen. Sie war einverstanden und kam zu uns.»
Matilda hörte gespannt zu. «Wie alt war die Tante, als sie bei Ihnen einzog?» fragte sie.
«Noch nicht sehr alt», antwortete Fräulein Honig, «ich würde sagen, so um die Dreißig. Aber ich hab sie von Anfang an gehaßt. Ich vermißte meine Mutter entsetzlich, und die Tante war nicht sehr freundlich. Mein Vater wußte das nicht, weil er nur selten da war, aber wenn er auftauchte, führte sich meine Tante ganz anders auf.»
Fräulein Honig hielt inne und trank einen Schluck Tee. «Ich weiß wirklich nicht, warum ich dir das alles erzähle», sagte sie verlegen.
«Weiter», sagte Matilda, «bitte.»
«Na gut», sagte Fräulein Honig. «Dann ereignete sich die zweite Tragödie. Als ich fünf Jahre alt war, starb mein Vater ganz plötzlich. Von einem Tag auf den anderen. Und ich blieb allein mit meiner Tante zurück. Das Gericht bestimmte sie zu meinem Vormund. Sie hatte also das Sorgerecht für mich, konnte wie Eltern über mich bestimmen, und irgendwie wurde sie auch die eigentliche Besitzerin des Hauses.»
«Wie ist Ihr Vater denn gestorben?» fragte Matilda.
«Es ist interessant, daß du dich danach erkundigst», sagte Fräulein Honig. «Ich selbst war damals viel zu klein, um danach zu fragen, aber später habe ich festgestellt, daß es beträchtliche Unklarheiten um diesen Tod gegeben hat.»
«Hat man nicht gewußt, woran er gestorben ist?» fragte Matilda.
«Nein, nicht genau», erwiderte Fräulein Honig zögernd. «Weißt du, es wollte einfach niemand glauben, daß er so etwas getan hatte. Er war ein durch und durch gesunder und vernünftiger Mann.»
«Was getan hatte?» fragte Matilda.
«Sich das Leben genommen.»
Das verblüffte Matilda. «Hat er das wirklich getan?» stieß sie hervor.
«So hat es ausgesehen», sagte Fräulein Honig, «aber wer weiß?» Sie zuckte die Schultern und wandte sich ab und starrte zu dem winzigen Fenster hinaus.
«Ich weiß, was Sie denken», sagte Matilda, «Sie glauben, daß ihn die Tante getötet hat und daß sie es so eingerichtet hat, daß man denken mußte, er hätte es selber getan.»
«Ich denke gar nichts», erwiderte Fräulein Honig. «Wenn es keinen Beweis gibt, darf man so etwas nicht denken.»
In der kleinen Stube wurde es totenstill. Matilda merkte, daß die Hände, die den Becher umklammerten, leise bebten. «Und was ist danach passiert?» fragte sie. «Was ist mit Ihnen passiert, als Sie mit der Tante alleine waren? War sie nicht nett zu Ihnen?»
«Nett?» sagte Fräulein Honig. «Sie war ein Teufel. Sobald mein Vater aus dem Wege war, wurde sie ein wahres Schreckgespenst. Mein Leben wurde ein Angsttraum.»
«Was hat sie Ihnen denn angetan?» erkundigte sich Matilda.
«Darüber möchte ich nicht sprechen», sagte Fräulein Honig, «es ist zu schrecklich. Aber schließlich bekam ich solche Angst vor ihr, daß ich schon zu zittern anfing, wenn sie nur den Raum betrat. Ich bin niemals so ein starker Charakter wie du gewesen, verstehst du? Ich war immer schüchtern und scheu.»
«Haben Sie denn gar keine anderen Verwandten gehabt?» fragte Matilda. «Irgendwelche Onkel oder Tanten oder Omas, die Sie hätten besuchen können?»
«Soweit ich weiß, nicht», antwortete Fräulein Honig. «Sie waren alle entweder tot oder nach Australien ausgewandert. Und ich fürchte, daran hat sich bis heute nichts geändert.»
«Sie sind also alleine mit Ihrer Tante in dem Haus aufgewachsen», sagte Matilda, «aber Sie müssen doch in die Schule gegangen sein.»
«Natürlich», erwiderte Fräulein Honig, «ich bin in dieselbe Schule gegangen, die du jetzt besuchst. Aber gewohnt habe ich eben zu Hause.» Fräulein Honig hielt inne und starrte in ihren leeren Teebecher. «Also, was ich dir gerade zu erklären versuche», fuhr sie fort, «ist wohl, wie ich im Lauf der Jahre von diesem Tantenungetüm so vollständig geduckt und beherrscht wurde, daß ich auf der Stelle gehorchte, gleichgültig, was sie befahl. So etwas kann passieren, verstehst du. Und als ich glücklich zehn geworden war, hatte sie mich ganz und gar zu ihrer Sklavin gemacht. Ich erledigte die ganze Hausarbeit. Ich machte ihr Bett. Ich wusch und bügelte für sie. Ich bereitete alle Mahlzeiten zu. Ich hatte einfach alles gelernt.»
«Aber Sie hätten doch sicherlich irgend jemandem Ihr Herz ausschütten können?» fragte Matilda.
«Wem denn?» fragte Fräulein Honig. «Und außerdem, ich war viel zu verschreckt, um mich zu beschweren. Ich hab dir doch gesagt, ich war eine Sklavin.»
«Hat sie Sie geschlagen?»
«Wir wollen bitte nicht in die Einzelheiten gehen», sagte Fräulein Honig.
«Das ist ja einfach grauenhaft», sagte Matilda. «Haben Sie nicht die ganze Zeit geheult?»
«Nur wenn ich alleine war», antwortete Fräulein Honig. «Vor ihr durfte ich nicht weinen. Aber ich lebte in Angst und Schrecken.»
«Und was ist passiert, als Sie mit der Schule fertig waren?» fragte Matilda.
«Ich war eine gute Schülerin», sagte Fräulein Honig, «ich hätte leicht studieren können. Aber das kam gar nicht in Frage.»