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Roald Dahl - Matilda

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Der Junge wurde jetzt langsamer, es war nicht zu bezweifeln. Aber er stopfte sich das Zeug mit der verbiesterten Ausdauer eines Langstreckenläufers in den Mund, der schon die Ziellinie sieht und weiß, er muß nur einfach noch durchhalten. Als der allerletzte Happen verschwand, erhob sich in der Aula ein ohrenbetäubender Jubel, die Kinder sprangen von ihren Stühlen auf und jubelten und klatschten und riefen: «Bravo, Theo! Gut gemacht, Theo! Du hast eine Goldmedaille gewonnen, Theo!»



Die Knüppelkuh stand reglos auf der Bühne. Ihr großes Pferdegesicht hatte die Farbe von geschmolzener Lava angenommen, und ihre Augen funkelten vor Wut. Sie starrte Theo Torfkopp an, der wie eine fette, überfütterte Made auf seinem Stuhl saß, zum Platzen voll, halb betäubt, unfähig, sich zu rühren oder zu reden. Feine Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn, aber auf seinem Gesicht lag ein triumphierendes Grinsen.

Plötzlich griff die Knüppelkuh nach vorn und packte die große leere Porzellanplatte, auf der die Torte gewesen war. Sie hob sie hoch in die Luft und ließ sie genau auf den Schädel des unglücklichen Theo Torfkopp knallen, daß es nur so klirrte und die Scherben auf der ganzen Bühne herumflogen.



Der Junge war aber so mit Torte angefüllt, daß er einem Sack voll nassem Zement glich, und man hätte ihn nicht einmal mit einem Schmiedehammer etwas anhaben können. Er schüttelte also nur ein paarmal den Kopf und grinste weiter.

«Fahr zur Hölle!» kreischte die Knüppelkuh und marschierte von der Bühne. Die Köchin folgte ihr auf den Fersen.


Lavendel

Mitten in der ersten Woche von Matildas erstem Schuljahr sagte Fräulein Honig zur Klasse:

«Ich habe einige wichtige Mitteilungen für euch, hört also genau zu. Du auch, Matilda. Leg das Buch einen Augenblick beiseite und paß mit auf.»

Lauter kleine emsige Gesichter schauten auf, und alle hörten zu.

«Es ist die Gewohnheit der Schulleiterin», fuhr Fräulein Honig fort, «die Klasse in jeder Woche für eine Schulstunde zu übernehmen. Sie macht das in allen Klassen in der Schule, und jede Klasse kommt an einem ganz bestimmten Tag und zu einer ganz bestimmten Zeit an die Reihe. Bei uns ist das immer zwei Uhr am Donnerstagnachmittag, unmittelbar nach dem Mittagessen. Fräulein Knüppelkuh wird also morgen um zwei eine Stunde von mir übernehmen. Ich werde selbstverständlich auch dasein, aber nur als stumme Zuhörerin, habt ihr das verstanden?»

«Ja, Fräulein Honig», zirpten sie.

«Noch eine Warnung für euch alle», fuhr Fräulein Honig fort, «die Frau Rektorin ist mit allem sehr streng. Achtet also darauf, daß eure Kleider sauber sind, daß eure Gesichter sauber sind und daß eure Hände sauber sind. Redet nur, wenn ihr angesprochen werdet. Wenn sie euch eine Frage stellt, so steht auf, bevor ihr die Antwort gebt. Laßt euch nie auf einen Streit mit ihr ein. Widersprecht ihr niemals. Versucht niemals, witzig zu sein. Das macht sie ärgerlich, und wenn die Frau Rektorin ärgerlich wird, müßt ihr ganz gehörig auf der Hut sein.»

«Das kann man wohl sagen», murmelte Lavendel.

«Ich bin fest davon überzeugt», fuhr Fräulein Honig fort, «daß sie prüfen wird, was ihr in dieser Woche habt lernen sollen, nämlich das Einmalzwei. Ich rate euch also dringend, es noch einmal schön zu üben, wenn ihr nachher zu Hause seid. Bittet eure Mutter oder euren Vater, euch abzuhören.»



«Worin wird sie uns denn noch prüfen?» erkundigte sich jemand.

«Im Buchstabieren», antwortete Fräulein Honig. «Versucht euch gut an alles zu erinnern, was ihr in diesen letzten paar Tagen gelernt habt. Und noch etwas. Es muß hier immer ein Krug Wasser und ein Glas auf dem Tisch stehen, wenn die Frau Rektorin eintritt. Ohne das erteilt sie niemals Unterricht. Wer will also die Verantwortung übernehmen und darauf achten, daß alles vorhanden ist?»

«Ich», antwortete Lavendel sofort.

«Sehr gut, Lavendel», sagte Fräulein Honig, «es wird nun deine Aufgabe sein, kurz vor Beginn der Stunde in die Küche zu gehen und den Krug zu holen und mit Wasser zu füllen und hier auf diesen Tisch neben ein sauberes leeres Glas zu stellen.»

«Und was, wenn der Krug nicht in der Küche ist?» erkundigte sich Lavendel.

«Es gibt in der Küche Dutzende von Krügen und Gläsern, die der Frau Rektorin gehören», antwortete Fräulein Honig, «sie werden überall in der Schule gebraucht.»

«Ich werde es nicht vergessen», sagte Lavendel. «Ich verspreche, daß ich es nicht vergesse.»

Schon begann Lavendels planender Verstand sich mit den Möglichkeiten zu befassen, die sich durch diese Wasserkrugsache für sie eröffneten. Sie war ganz versessen darauf, eine wahre Heldentat zu vollbringen. Sie betete das ältere Mädchen Hortensia fast an wegen seiner wagemutigen Streiche, die es hier in der Schule gespielt hatte. Sie bewunderte auch Matilda, die ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit von der Papageiengeschichte erzählt hatte, die sie zu Hause durchgeführt hatte, und auch von dem großen Haarwasserstreich, dem ihr Vater die blonden Haare verdankt hatte. Jetzt war sie an der Reihe, eine Heldin zu werden, sie mußte sich nur einen fabelhaften Plan zurechtlegen.

Als sie an diesem Nachmittag von der Schule nach Hause ging, begann sie die verschiedenen Möglichkeiten zu erwägen, und als sie schließlich den Keim einer blendenden Idee erwischte, hegte und pflegte sie ihn, ließ ihn wachsen und gedeihen und arbeitete ihren Schlachtplan genauso sorgfältig aus wie der Herzog von Wellington vor der Schlacht von Waterloo. Wenn der Feind in diesem Fall auch nicht Napoleon war, so hätte man in Mahlheim Hall doch keinen getroffen, der zugegeben hätte, daß die Schulleiterin ein weniger gefährlicher Gegner als der berühmte Franzose wäre. Lavendel sagte sich, daß sie mit großem Geschick vorgehen und tiefes Schweigen bewahren müßte, wenn sie diese Unternehmung bei lebendigem Leibe überstehen wollte.

Am Ende von Lavendels Garten gab es einen verschlammten Teich, der eine Kolonie von Wassermolchen beherbergte. Der Molch, obgleich in englischen Teichen und Seen recht verbreitet, zeigt sich den Menschen nur selten, weil er ein scheues Geschöpf ist, das im Schatten lebt. Er ist ein unbeschreiblich häßliches Tier, sieht eklig aus, ungefähr wie ein Krokodilbaby, nur mit einem kürzeren Kopf. Er ist vollkommen harmlos, was man ihm aber nicht ansieht. Er ist etwa zwanzig Zentimeter lang und ziemlich glitschig, die Haut auf seinem Rücken ist grünlichgrau und die unten auf dem Bauch orangefarben. Er gehört, ganz korrekt gesagt, zu den Amphibien, die im Wasser und auf dem Trockenen leben können.

An diesem Abend ging Lavendel hinten in den Garten und war fest entschlossen, einen Molch zu fangen. Molche sind sehr flinke Tiere, und sie lassen sich nicht leicht erwischen.

Lavendel lag lange Zeit auf der Lauer und wartete geduldig, bis sie einen wahren Mordskerl ausmachte. Da schlug sie zu, indem sie ihren Schulhut als Fangnetz benutzte, und erwischte den Molch. Sie hatte ihren Griffelkasten schon vorsorglich als Behältnis für das Tier mit Gras ausgefüttert, stellte nun aber fest, daß es gar nicht so einfach war, den Molch aus dem Hut und in den Griffelkasten zu bugsieren. Er zippelte und zappelte wie Quecksilber, und der Kasten war nur so lang, daß er gerade hineinpaßte. Als sie ihn schließlich drinnen hatte, mußte sie aufpassen, daß sie ihm den Schwanz nicht einklemmte, als sie den Deckel zuschob. Ein Junge in der Nachbarschaft, der Rupert Einwinkel hieß, hatte ihr erzählt, daß der abgehackte Schwanz eines Molches lebendig blieb und aus sich heraus einen neuen Molch wachsen ließ, der zehnmal größer war als der erste. Er konnte ganz gut so groß wie ein Alligator werden. Lavendel glaubte das zwar nicht ganz, wollte jedoch dieses Risiko vermeiden.

Schließlich gelang es ihr, den Deckel des Griffelkastens richtig zuzuschieben, und damit hatte sie den Molch. Dann fiel ihr aber etwas ein, und sie schob den Deckel ein winziges bißchen auf, damit das Tier auch atmen konnte.



Am nächsten Tag transportierte sie ihre Geheimwaffe im Ranzen in die Schule. Sie platzte fast vor Aufregung. Sie hätte am liebsten Matilda in ihren ganzen Schlachtplan eingeweiht. Am allerliebsten hätte sie es der ganzen Klasse erzählt. Aber sie kam schließlich zu dem Entschluß, keinem etwas zu sagen. So war es besser, denn dann konnte keinem ihr Name entschlüpfen, selbst wenn die härteste Folter angewandt wurde.

So kam die Zeit für die Mittagspause. Es gab heute Würstchen und gebackene Bohnen, Lavendels Lieblingsessen, aber sie konnte keinen Bissen herunterbringen.

«Geht’s dir nicht gut, Lavendel?» fragte Fräulein Honig vom Tischende.

«Ich hab so viel gefrühstückt», antwortete Lavendel, «ich kann wirklich noch nichts wieder essen.»

Sofort nach dem Essen stürzte sie in die Küche und nahm sich einen der berühmten Knüppelkuh-Krüge. Es war ein großes dickes Ding aus blauglasiertem Steingut. Lavendel füllte den Krug halb mit Wasser voll, trug ihn mit einem Glas ins Klassenzimmer und stellte ihn auf den Lehrertisch. Blitzgeschwind holte Lavendel ihren Griffelkasten aus dem Ranzen und schob den Deckel nur ein klitzekleines bißchen auf. Der Wassermolch lag reglos da. Da hob sie den Kasten mit großer Vorsicht über die Schnauze des Kruges, zog den Deckel ganz und gar auf und kippte den Molch hinein. Es platschte, als er im Wasser landete, und dann fuhr er ein paar Sekunden lang wie wild herum, ehe er sich in dem Krug einrichtete. Und damit er sich dort auch richtig wie zu Hause fühlte, beschloß Lavendel, ihm auch das Grünzeug aus dem Griffelkasten ins Wasser zu geben.



Damit war die Tat getan. Alles war fertig und vorbereitet. Lavendel packte ihre Bleistifte wieder in den ziemlich feuchten Griffelkasten und stellte diesen auf seinen angestammten Platz auf ihrem eigenen Pult. Dann lief sie hinaus und gesellte sich zu den anderen auf dem Schulhof, bis es Zeit für die nächste Unterrichtsstunde war.


Wochenprüfung

Schlag zwei Uhr versammelte sich die Klasse wieder, Fräulein Honig eingeschlossen, die sich davon überzeugte, daß der Wasserkrug und das Glas an ihrem Platz standen. Dann nahm sie den ihren ein und stellte sich hinten in das Zimmer. Und schon nahte die gewaltige Gestalt der Schulleiterin in ihrem gegürteten Kittel und den grünen Kniehosen und marschierte herein.

«Guten Tag, Kinder», bellte sie.

«Guten Tag, Fräulein Knüppelkuh», zirpten sie.

Die Schulleiterin stellte sich vor der Klasse auf, Beine gespreizt, Hände auf den Hüften, und funkelte die kleinen Buben und Mädchen an, die voller Unruhe vor ihr an ihren Pulten saßen.

«Kein sehr erfreulicher Anblick», sagte sie. Ihre Miene drückte tiefsten Ekel aus, als ob sie etwas betrachtete, was ein Hund mitten auf dem Fußboden erledigt hatte. «Was seid ihr nur für eine Horde von kotzwürdigen kleinen Kröpsen.»

Alle waren vernünftig genug, um mucksmäuschenstill zu bleiben.

«Ich möchte mich übergeben», fuhr sie fort, «wenn ich nur daran denke, daß ich mich in den nächsten sechs Jahren mit so einem Haufen Müll in meiner Schule befassen muß, wie ihr es seid. Aber ich werde schon dafür sorgen, daß möglichst viele rausfliegen, und zwar ein bißchen plötzlich, sonst wär’s ja nicht zum Aushalten.» Sie hielt inne und schnaubte ein paarmal. Das war ein merkwürdiges Geräusch. Man kann die gleichen Töne hören, wenn man einmal beim Füttern durch einen Pferdestall geht. «Ich nehme an», fuhr sie fort, «daß euch eure Mütter und Väter einblasen, ihr wäret wunderbar. Also, ich bin hier, um euch das Gegenteil zu sagen, und ihr solltet lieber mir glauben. Alle Mann aufgestanden!»

Sie stellten sich geschwind auf ihre Füße.

«Jetzt die Hände nach vorne gestreckt. Und wenn ich an euch vorbeigehe, dann wünsche ich, daß ihr sie umdreht, damit ich prüfen kann, ob sie von beiden Seiten sauber sind.»

Die Knüppelkuh begann einen langsamen Marsch zwischen den Bankreihen hindurch und inspizierte die Hände. Alles ging gut, bis sie zu einem kleinen Jungen in der zweiten Reihe kam.

«Dein Name?» bellte sie.

«Nigel», antwortete der Junge.

«Nigel was?»

«Nigel Hicks», sagte der Junge.

«Nigel Hicks was?» bellte die Knüppelkuh. Sie bellte so laut, daß sie den kleinen Kerl fast durchs Fenster gepustet hätte.

«Das ist alles», antwortete Nigel, «außer Sie wollen meinen zweiten Vornamen auch noch wissen.» Er war ein tapferer kleiner Junge, und man konnte sehen, daß er versuchte, sich nicht in Angst und Schrecken versetzen zu lassen von der Menschenfresserin, die da vor ihm aufragte.

«Ich bin nicht im geringsten an deinem zweiten Vornamen interessiert, du Wanze!» bellte die Menschenfresserin. «Wie lautet mein Name?»

«Fräulein Knüppelkuh», antwortete Nigel.

«Dann benutz ihn gefälligst, wenn du mit mir sprichst! Also los, wollen wir es noch mal versuchen. Wie heißt du?»

«Nigel Hicks, Fräulein Knüppelkuh», entgegnete Nigel.

«Schon besser», knurrte die Knüppelkuh. «Deine Hände starren vor Dreck, Nigel! Wann hast du sie das letzte Mal gewaschen?»

«Also, da muß ich mal nachdenken», sagte Nigel. «Es ist ziemlich schwer, sich genau daran zu erinnern. Es könnte gestern gewesen sein, oder vielleicht auch vorgestern.»

Der ganze Körper der Knüppelkuh samt ihrem Gesicht schienen so anzuschwellen, als ob sie jemand mit der Fahrradpumpe aufgepumpt hätte. «Wußte ich’s doch!» bellte sie. «Ein Blick auf dich, und ich hab genau gewußt, daß du nichts als ein Stück Dreck bist. Was tut dein Vater, karrt er den Müll weg?»



«Er ist Arzt», antwortete Nigel, «und ein richtig guter. Er sagt, wir sind alle miteinander so voll von Bazillen, daß einem ein bißchen Extradreck auch nicht viel schadet.»

«Da bin ich nur froh, daß er nicht mein Hausarzt ist», sagte die Knüppelkuh. «Und wenn ich fragen dürfte, warum klebt dir eine gebackene Bohne vorne am Hemd?»

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