Peter Wawerzinek - Rabenliebe
Die Puppe, im Gegensatz zum leiblichen Schauspieler, begegnet uns von vornherein als Gestaltung,
als Bild, als Geschöpf des Geistes. Der Mensch, auch wenn er ein Bild spielt, bleibt immer noch aus
Fleisch und Blut. Die Puppe ist aus Holz, ein ehrliches, braves Holz, das nie den Anspruch erhebt,
einen wirklichen Menschen darstellen zu wollen und wir sollen sie nicht dafür halten. Sie ist nur
ein Zeichen dafür, eine Form, eine Schrift, die bedeutet, ohne dass sie das Bedeutende sein will.
Sie ist Spiel, nicht Täuschung; sie ist geistig, wie nur das Spiel sein kann.
Max Frisch
IM PUPPENMUSEUM, auf halber Treppe zu den Ausstellungsräumen, entdecke ich einen Holzschnitt mit einem um das Feuer springenden Rumpelstilzchen. Die eingeschriebene Jahreszahl stimmt mit der meiner Geburt überein. Das Plakat stimmt mit dem Plakat im Vorschulkinderheim überein. Wir haben Rumpelstilzchen im Kinderheim gespielt. Ich durfte die Rolle zum Weihnachtsspektakel des Heimes mit Bianca aufführen, im von seinen Tischen befreiten großen Essensaal, in dem ich sonst Strafe gestanden habe und aufessen sollte. Nun stand ich auf den Brettern, die Bühne waren, vor den Kinder des Heimes, das Publikum war eigens wegen uns gekommen, auch mich zu erleben, meinen Feuertanz neben der Klappe der Essensausgabe. Das kleine Feuer ein technisches Meisterwerk, von Ventilatorluft getrieben, bunte Stofffetzen, die schlangenhaft um zur Pyramide gestellte Holzscheite züngeln, unter denen eine rote Glühbirne steht. Ich stecke in einem Lumpensack mit aufgenähten Flicken. Mein künstlicher Bart besteht aus gefärbter Watte und ist an meinem Kopf mit Schlüpfergummiband befestigt, das mich während des Spiels schmerzt.
Die schöne Bianca sitzt im Turm gefangen und soll im Auftrag des Königs Stroh zu Gold spinnen, eine Aufgabe, die sie ohne meine Hilfe nicht bewältigen kann. Ich trete vor Bianca hin, der Gnom, welcher Stroh in Gold zu verwandeln weiß. Die Bianca spielt entzückt und drückt mir ihren Handrücken an die Stirn, dass ich mich in sie verliebe, mein Spiel fast vergesse. Das Spinnrad leuchtet und flackert, von einem Dynamo angetrieben, der unterhalb der Essensklappe hinter einem Strohballen versteckt ist: Spinne, spinne leuchtend froh. Mach zu Gold den Ballen Stroh. Hid bach i, moorn bröu i, iibermoorn hool i in der Cheenigi i ire Chind; Aa, wie gued, as niemes wais, as i Rumbelschdiilzli hais. Der Hausmeister sitzt am Bühnenrand und achtet stolz auf seine Technik. Seine Augen spiegeln die von ihm erräftelten Leuchteffekte wider. Ich springe mit Hingabe um das Lagerfeuer, klatsche in die Hände, freue mich am Gold, das ich schaffe, und bin so diebisch drauf erpicht, niemandem meinen Namen zu sagen, bis ihn mir die Bianca am Ende des Spiels mit spitzer Stimme vor den Latz haut und ich, der Angemeierte, vor Wut und Scham im Boden verschwinde. Wie mein Abgang vonstattenging, mitten durch und in der Luft auseinandergerissen, dass es dem Publikum ein Schockerlebnis ist, weiß ich nicht mehr zu sagen, ich sehe mich und meine Bianca an die Hand genommen uns vor den Leuten verbeugen.
Im Museum liegt auf einem Stehpult ein großes Gästebuch aus. Ich schreibe mich gern in Gästebücher ein: Sagen Sie mir bitte Ihren Lieblingssatz, fordere ich die Museumsdame auf, die von meinem Ansinnen baff erstaunt ist, es ungewöhnlich findet, noch nie von einem Besucher aufgefordert worden ist, etwas Persönliches von sich zu geben, eher doch wohl angestellt ist, um achtzugeben auf die Leute, dass die Kinder nicht nach den Museumsstücken greifen. Sie ziert sich eine Weile und lässt sich überreden, ihr falle dieses Lebensmotto ein, sagt sie schließlich: Die unglaublichsten Dinge im Leben sind die wirklich wahren.
Ich schreibe den Satz so nieder, setze meinen Namen darunter, füge das Datum des Tages an und den Begriff Mutter-Findung und bin für die Dauer meines Besuches im Museum auf mich allein gestellt. Ich bewege mich unter Puppen, Spielzeug. Mir kommen Kinderzeiten in Erinnerung. Die Museumsdame spricht mich erst wieder vor dem Verlassen der Ausstellungsräume in ausgewählter Höflichkeit an. Wenn sie was fragen dürfe, dann, was sie zum Begriff Mutter-Findung zu denken habe. Unter den wachen Augen einer Großfigur mit Museumsbezeichnung Marianaua; brasilianisch, Bernadinergesicht, Augenbrauenwulst, himmelblaue Glitzeraugen, Schmollmund, Glatze und Streifenhaar (schwarz), unterrichte ich die Museumsdame über mein Unterfangen, erzähle ihr, wie ich an die Adresse gekommen bin, rede von der Seezunge beim Minister und welche Gedanken mir dauernd im Kopf herumschwirren, bis ihr der Kopf schwirrt, wie sie sagt, sie kann und will nicht fassen, was es für Menschen in der Welt gibt. Fünf verschiedene Polizistenhandpuppen aus fünf verschiedenen Epochen liegen still unter Glas, als hörten sie genauso verwundert zu, als wären König und Hexe, Großmama, Koch und Jäger gleichfalls betroffen.
Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild: Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht sein Stündchen auf der Bühne und dann nicht mehr vernommen wird. Ein Märchen ists, erzählt von einem Dummkopf, voller Klang und Wut, das nichts bedeutet. Macbeth, Shakespeare WIE, BITTE SCHÖN, ist der werte Name Ihrer Frau Mutter. Ich nenne ihn ihr. Sie erschrickt und redet tonlos, ohne Punkt und Pause zu setzen: Da ist mal eine Frau gewesen eine kleine unscheinbare zierliche Person war das mit mehreren Kindern vier denke ich nach so vielen Jahren weiß ich dass sie wie soll ich sagen verwirrt schien ja so in etwa will ich meinen wenn Sie verstehen ich habe da so eine Ahnung ich meine die könnte den Namen getragen haben den Sie mir eben genannt haben ist eher ein recht seltener Name in dieser Gegend denken Sie ein paar Monate nicht länger hat sie über uns gewohnt in einer engen Wohnstatt für heutige Verhältnisse immerhin ein Dach übern Kopf wo immer die hergekommen ist mehr eingeliefert worden glaube ich verdonnert dort zu wohnen könnt ich mir denken war eh mit ihr ein ziemliches Durcheinander wenn ich mich klar genug ausdrücke ist ja auch Takt erforderlich weil es handelt sich ja um Ihre Mutter und Geschwisterchen möglicherweise zudem worüber ich Ihnen berichte so Sachen dass die Frau eines Morgens dann spurlos verschwunden war bei Nacht und Nebel wie man sagt weitergezogen eher ausgebüxt und abgehauen ohne die Kinder wie ich sicher weiß denn das war ja dann auch der Anlass zu aller Aufregung zu dieser Person die ihre Kinder alleine hausen lässt und aber auch firm darin schien sie zu lassen und sich nicht zu jucken dran möchte ich anmerken alles eingeübt und angewiesen dass die älteste von allen den weniger älteren sofort die Ersatzmama wird verstehen Sie mich bitte richtig bei denen sah es aus als gehörte es fest zu deren Leben wissen Sie Kinder streckenweise ohne Mutter sein zu lassen und sich damit abfinden zurechtzufinden weil die zuvor immer mal wieder abgehauen ist wenn ihr die Sache zu viel wurde alles über den Kopf wuchs sogar über die Grenze denken Sie an wie Sie sagen ist sie von Ost nach West getürmt und hat die Kinder damals schon zurückgelassen was schrecklich ist bewahre Gott einen davor und fragen Sie mich nicht was aus der geworden ist das alles ist gute dreißig Jahre her ich kann mich täuschen völlig falschliegen weiß ja nicht einmal wie die Angelegenheit behandelt wurde und sich ergeben hat man steckt doch nicht drin und ist im nächsten Tagesgeschäft begriffen bevor man eine Sache weiterverfolgt vermute eher man wird sie aufgespürt ihr die Kinder hinterhergebracht haben wo sie doch die Mutter gewesen ist bei allem als Mutter zu behandeln war ja nun viel hatte die nicht dabei die Frau wenn ich es recht überlege zwei Koffer bei all den Kindern habe ich mich verwundert die um sie waren und rasch die enge Treppe herunter befördert weg ist sie die Frau ach ja einen Hund weiß ich der anschlug ein bissiges Vieh das die Kinder vor dem Amt beschützt und den Rettungsmännern schön zugesetzt hat weil die Frau sie nicht in die Wohnung gelassen hat meine ich wir waren beschäftigt sind uns einfach nicht aufgefallen die Kleinen obwohl man so beieinander wohnt und im Alltag keinem begegnet wo doch grad Hunde Auslauf haben müssen bewegt werden wollen wie von mir und meinem Mann die wir wahrlich per Rad in der Umgebung von Eberbach am Neckar entlang dem Ufer unterwegs sind sonst wäre uns der Hund eingegangen wenn da ein Hund ausgeführt worden wäre bei denen das hätten wir bemerken müssen bis kurz bevor es dann bei uns zu einem Unfall gekommen ist der Mann körperlich so intakt dann lange Zeit außer Gefecht gesetzt war wir also eine Weile nicht mit dem Rad aus waren weil ihm dann das nicht mehr so möglich gewesen ist dass es komisch war und ungewohnt ohne ihn und ich eben mit dem Fahrrad raus bin allein sehen Sie und komme ins Reden Sie werden entschuldigen die Erinnerungen es brennt mir in der Seele ich musste es Ihnen mitteilen dass es ein Hinweis ist für Sie ein kleiner Fingerwink der Ihnen hilft.
Steht nach diesem für sie ungewohnten und so ausführlichen Bericht sichtlich verwirrt und peinlich berührt vom eigenen spontanen Redefluss vor mir, sagt, dass sie mich herzlich drücken muss und in die Arme schließen. Es kommt zur emotionalen Übereinstimmung zweier im bisherigen Leben unbekannter Wesen. Die Museumsdame ist ergriffen. Uns stehen Tränen in den Augen. Die Kette aus kleinen flachen Perlen, unterbreche ich die Situation, um ihren Hals ist schön. Sie sagt, woher sie stammt und, um was zu sagen, dass sie über siebzig Jahre alt ist, wie viele Jahre über die Siebzig verrät sie nicht. Ich denke, nicht jünger und älter als meine Mutter an Jahren. Dann fasst sie neuen Mut, will das Thema abschließen, sagt: Sie werden es nicht glauben aber vor Tagen habe ich am Morgen gedacht was aus den Kindern und dieser armen Frau mit den Kindern so geworden sein mag ist schon verwunderlich wie einem das Leben zuspielt gibt ja keine Zufälle hat mein Mann immer gesagt weil alles hat mit allem zu schaffen eins geht ins andere über und alles wechselt mit jedem ein jedes was aus dem großen Pott entsteht und wächst und zerfällt so will ich meinen Mann zitieren und zum Ende weiß kein Mensch wie er in Verbindung ist zu einem anderen Menschen nebenan und weit weg in Afrika der Mongolei wo alles im Fließen begriffen ist und man ein wenig mehr ein wenig heftiger an der Sache kratzen braucht schon kommt was zum Vorschein oder nicht?
Ich ordne die Museumsdame in ihrem Museum zentral der Vitrine zu, stelle den Selbstauslöser der Mutterfindungskamera auf zehn Sekunden, lege den Arm um die Museumsfrau; im Glaskasten befinden sich auf Holzstangen gesteckte Handpuppen. Und als der Auslöser klickt, meine ich unmittelbar vor dem Moment des Auslösens gespürt zu haben, wie alle Puppenköpfe von einer magischen Hand geführt sich meiner Kamera zuwandten, um auf dem außergewöhnlichen Zeitdokument ihrer Museumswächterin lächelnd mit von Wichtigkeit zu sein. Das Buch, wenn es denn fertig geschrieben ist, ich werde es kaufen, ruft mir die Museumsdame nach und winkt in einer Herzlichkeit, wie ich von meiner Mutter nicht begrüßt und nicht verabschiedet werde. Dessen bin ich mir sicher. Es war getan fast eh gedacht, der Abend wiegte schon die Erde und an den Bergen hing die Nacht, schon stand im Nebelkleid die Eiche, ein aufgetürmter Riese, wo Finsternis aus dem Gesträuche mit hundert schwarzen Augen sah. Der Mond von einem Wolkenhügel sah kläglich aus dem Duft hervor, die Winde schwangen leise Flügel, umsausten schauerlich mein Ohr; die Nacht schuf tausend Ungeheuer, doch frisch und fröhlich war mein Mut, in meinen Adern welches Feuer, in meinen Herzen welche Glut.
AUF DEM MARKTPLATZ Kopfsteinpflaster, es tönt die Ratshausuhr einmal wie eine Mahnung an mich. Der Tag ist in Sonnenglanz gehüllt. Der Platz um mich herum ist voller Menschen. Es ist Markttag. Kauffreudige wandeln mit Körben gerüstet. Eine Frau schiebt ihr Damenrad von Stand zu Stand, unterhält sich mit Käuferinnen und Verkäufern. Taschen, Netze, Beutel, Rucksäcke. Waren werden zur Hand genommen und wieder hingelegt. Ein schöner Streifen Leben. Einfaches Kino. Nichts Besonderes. Ich bin in diesem Film die unwichtige Nebenrolle. Ich sitze inmitten einer kleinen Idylle, mich selbst bei den Händen haltend, wie ich es nie mit mir veranstaltet habe, als wäre ich mit einer Geliebten hier, um dessen zu gedenken, dass meine elende Mutter vor meiner Geburt bestimmt gegen die nicht gewünschte, anwachsende Bauchwölbung angeschlagen, ihren Bauch verflucht und mich loszuwerden versucht hat und mich dann doch auswuchs in ihrem Leib zu dem Geschwür, das sie nicht haben wollte.
In wenigen Stunden wird es zur Begegnung kommen. Länger hinauszögern kann ich sie nicht. Aus Sehnsucht nach Heimat, sagt ein Mann neben mir zu einem Mann ihm gegenüber am Tisch. Als ich mich ins Gespräch mischen will, sind die beiden Herren bereits aufgestanden und thematisch zu den Propheten gewechselt, den verbalen Hochseilakrobaten, denen weitaus mehr Respekt zu zollen wäre; die sich noch richtiggehend zu Tode stürzen dürften in Ausübung ihrer hohen Kunst. Die Herren gehen ab. Ich wandere in Richtung Pension auf die Mutterseite zu, über die Gleise, einem kleinen Fluss zu, wo ich lange aufs Geländer gestützt verweile, nach der Forelle Ausschau halte, ein Exemplar entdecke; und schon ist die Forelle weg.
Drei Russinnen sitzen auf der Parkbank. Kinder spielen zu ihren Füßen mit Grasbüschel, Stein und Erde. Füllige Frauen in bunten Klamotten, die nervös an ihren Zigaretten ziehen, mehr paffen denn rauchen, sich alle naslang nach dem großen Unbekannten umschauen, der nirgends zu sehen ist. Ich sitze in ihrer Nähe auf einer freien Bank. Gegenüber diese platten Bauten. Ich rauche nicht. Ich muss die Mutter nicht besuchen. Ich kann mich in ihrer Stadt weiter ablenken lassen, ein weiteres Cafe aufsuchen, Kakao trinken, den Leuten zuhören, an die Köchin denken, die mich mit Kau-kau gefüttert hat. Eines Tages da packe ich einen großen Koffer für dich und mich, sag allen Freunden dass ich geh, bevor er mich nicht mehr gehen lässt, der Schnee, ich sag: Weil der Sommer ein Winter war, träumt man vom Urlaub das ganze Jahr, von Stränden so weiß und von Wassern so blau und von Kindern, die die Farbe haben von Kakao. Ich sitze hinterm Glas der Schauscheibe und erinnere mich an die vor meiner Mutter warnende Frau Pfarrerin: Erwarten Sie sich nicht zu viel von dem Besuch bei Ihrer Mutter. Es fehlt immer etwas. Nach Jahren der Trennung sollte der Sohn der Mutter gegenüber ein Fremder geworden sein, man wird nicht zueinander finden. Wenn überhaupt, bleiben die Erwartungen stets hinter den Realitäten zurück. Verlorene Bindungen sind nicht neu zu knüpfen, die Adoptivfamilie hat zu stark in das adoptierte Wesen eingewirkt. Die Beteiligten sind überfordert. Vorwärtsrücken, das einem Rückzug gleicht.
VON DEN ALTEN FRAUEN, die ich allein sehe und die dem Aussehen nach gut und gerne meine Mutter sein könnten, möchte ich mir eine aussuchen, sie ansprechen, mich ihr gegenüber erklären, sie bitten, so zum Spaß mir Mutter zu sein und drei vier Tage mit mir unterwegs zu sein, dass ich mich ausreden kann und mir der Besuch bei der richtigen Mutter erspart bleibt. Ein schöner Gedanke. Mir fehlt der Mut und eine Regung mahnt: Du musst wie ein wohlerzogener Sohn die Mutter antelefonieren, ihr Bescheid geben. Die Uhr tickt. Die Zeitspanne von Taktik und Kalkül ist um. Es ist Lebenssilvester für mich anberaumt. Der Moment, auf den ich im Leben nicht gewartet habe, rückt näher. Die Anonymität der Mutter hört mit jedem Schritt auf. Die Bedrohung nimmt menschliche Züge an. Ich stehe vor dem Wohnblock der Mutter. Ich sehe mir die zum offenen Viereck angeordneten Wohnblöcke an. Ich stehe vor dem Klingelknopfkasten, finde ihren Nachnamen vermerkt. Ich könnte den Klingelknopf tätigen, die Stimme der Mutter durch die Sprechanlage hören, von der Mutter geöffnet bekommen, ihr unangekündigt gegenübertreten.