Peter Wawerzinek - Rabenliebe
KÖRPERLICHE SYMPTOME DER ANGST sind nervöse Magenbeschwerden, Kurzatmigkeit, Muskelanspannung, schwitzende Handinnenflächen, Schwindelgefühle, Schlafstörungen, geistige Blockaden, plötzlicher Kontrollverlust über die Ausscheidungsfunktionen. Ich kenne die Angst im Vorfeld einer bevorstehenden Bestrafung. Aber es ist keine konkrete Angst, die mich auf der Fahrt nach Stralsund beherrscht. Es ist eher eine Stimmung, eine Beklemmung. Ich habe nicht gesagt bekommen, zu wem es geht und was für einen Menschen wir besuchen. Letztlich sitze ich mit der schweigenden Adoptionsmutter in einem Bus und dann in einem Personenzug. Es geht an wunderschönen Landschaften vorbei, eine lange Strecke führt eine Weile am Meer entlang, der Ostsee, also an etwas Großem vorbei in das Nichts, wenn ich mein Gefühl richtig werte und ansatzweise definiere. Es waren zwei Königskinder, sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief, ach könntest du schwimmen, so schwimm doch herüber zu mir, drei Kerzen will ich anzünden, die sollen leuchten zu dir, das hört ein falsches Nönnchen, die tat als wenn sie schlief, sie tat die Kerzelein auslöschen, der Jüngling ertrank so tief. Die Reisebedingungen sind beklemmende. Die Adoptionsmutter benimmt sich seltsam. Weil ich nicht über den Zweck der Reise nach Stralsund und über die Zielperson, der unser Besuch gilt, unterrichtet bin, weiß ich also das seltsame Benehmen der Adoptionsmutter nicht einzuordnen. Ganz anders wäre alles geworden, hätte man mir gesagt, dass es zur Schwester nach Stralsund ins Krankenhaus geht, sich Bruder und Schwester zum ersten Mal in ihrem Leben begegnen. Es war an einem Sonntagmorgen, die Leut waren alle so froh, nicht so die Königskinder, bis sie der Fischer fand, ach Fischer, liebster Fischer, willst du verdienen groß Lohn, so wirf dein Netz ins Wasser und fisch mir den Königssohn, er warf das Netz ins Wasser, er ging bis auf den Grund, er fischte und fischte so lange, bis er den Königssohn fand, ach Mündlein, könntest du sprechen, so war mein jung Herze gesund.
Das Ziel heißt Stralsund. Stralsund soll eine schöne Metropole sein, einen Hafen besitzen, eine Werft, die über den Dächern der Stadt von überall aus weithin zu sehen ist. Ich denke bei Stralsund an das mir dort versprochene Eis. Sie schwang sich um ihren Mantel und sprang wohl in die See, gut Nacht, mein Vater und Mutter, ihr seht mich nimmer-meh, da hört man Glöcklein läuten, da hört man Jammer und Not, hier liegen zwei Königskinder, die sind alle beide tot. Die Adoptionsmutter redet nicht viel, tätschelt nur einmal meine Hand, klopft auf ihr herum und sagt, was die Seltsamkeit ihres Benehmens noch steigert: Das wird alles werden, das bekommen wir hin, das wäre doch gelacht. Beklemmung ist für Wissenschaftler und Theoretiker eine lobenswerte Grundstimmung des Daseins, die dem Menschen bewusst vor Augen hält, wie sein Leben sich am Tod orientiert. Jean-Paul Sartre rät dem Menschen, die Beklemmung aus Angst vor Ängsten zu ignorieren, das Angst schürende Etwas zu negieren. Kluge Männer der Wissenschaft verweisen auf den kognitiven Aspekt der Beklemmung, bezeichnen ihn als eine Tür zu einem Raum, in dem sich unsere beklemmenden Gefühle aufhalten, sich vor uns ängstigen, Gruppen bilden, sich dicht beisammen sammeln und davor ängstigen, von uns als uns gehörige Beklemmung in Anspruch genommen zu werden. Wohin also mit den abgelegten, den vergessenen, den überwundenen Beklemmungen, die sich nicht mehr ängstigen, wenn man sie packt und in sein Unterbewusstsein zurückstopft.
MIR TRÄUMTE DIE ERSTE NACHT in meinem Zimmer, ich wäre in einem russischen Zug unterwegs. Die Transsibirische Eisenbahn, die in Sibirien am Pazifik endet. Der Zielhafen heißt Wladiwostok, eine Stadt aus Schnee gemacht, wie wir sie in der Schule beschrieben bekommen haben. Mein Wissen über sie hat mir die Note Eins beschert. Erschließung, Bodenschätze, Zarentum. Alexander III. Moskau und der Ural. Tscheljabinsk, der erste glückliche Ankunftsort. Tscheljabinsk, Tscheljabinsk, wiederhole ich. Das Wort klingt wie Fischfang und Glücksspielautomat. Auswendig gelernt all mein Wissen, um eine Eins zu bekommen, um dann mitgenommen zu werden, nach Halle an der Saale, zur Cousine. Sapadno-Sibirskaja-Bahn. Tscheljabinsk-Kurgan-Petropawlowsk-Omsk. Der Ob, dieser ungewöhnlich ruhige, tiefe, breite Fluss, an dem sich das Kaff Nowonikolajewsk zur Millionenstadt Nowosibirsk ausdehnt. Die Bahn schnauft bis nach Krasnojarsk an den Jenissej voran. Über den Fluss führt die einen Kilometer lange Brücke, die eine ausgesprochen bemerkenswerte Brücke sein soll. Der Streckenbau gestaltet sich schwierig. Jahrelang übernehmen Fähren den Transport über den Baikalsee. Das Wort Baikalsee zergeht auf der Zunge wie Sahne mit Zuckerzimt.
Worte heucheln, Worte sind schnell, Worte sind wie Spazierstöcke. Jim Morrison
AM FENSTER FLIEGEN unberührte Landschaften vorbei. Der russische Osten. Ich drücke die Nase am Fensterglas platt, halte nach Bär, Wolf, Tiger Ausschau. Ostlich von Tschita, geradewegs durch die Mandschurei, zwischen Harbin und Ussurijskwo, muss ich austreten. Ich gehe hinaus in den Gang, steige über die Leiber der im Flur Dösenden. Ich befrage einen bärtigen alten Mann, der den Kopf schüttelt. Lauter runde, pausbäckige, bunt gekleidete Matrjoschkaweiber wie aus russischen Märchenfilmen entliehen, mit großen Augen, richten ihre verschrumpelten Finger in Gangrichtung. Also eile ich an Abteiltüren vorbei, lange, enge Flure passierend. Hinter den Türen Gackern und Hühner, Käfige und Ziegen, am Boden krümmende, eingemummelte Leiber. Felle und Fellgeruch. Knoblauchfahnen von Männern und Frauen. Keine Toilette. Kein einziges Loch, das mich vom Harndrang befreit. Eine Menge chinesischer Arbeiter haben beim Bau der Bahn mitgewirkt, rede ich auf mich ein, mich vom Harndrang abzulenken. Haben sich die Cholera zugezogen, sind auf den Gleisen gestorben. Ein Chinese fasst meinen Arm. Die Hand ist blass und kalt wie die eines Toten. Die Augen gleichen zerbrochenen Vogeleierschalen. Er weist auf eine Pforte. Ich finde eine Tür zu einem stillen Ortchen. Das Klo ist ein Klo wie das Klo bei mir zu Hause. Die Tür zur Kammer neben dem Waschbecken, die Spüle, der Handtuchhalter, Spiegel, alles mit der Toilette der Adoptionseltern identisch. Ich lasse die Hose herunter. Im selben Augenblick sitze ich, lasse beseelt das Wasser ab. Mitten in der Mandschurei fühle ich warme Nässe an meinem Innenschenkel, schrecke aus dem Traum, habe den teuren Federkern bepinkelt. Das Laken ist feucht, die unter das Laken gelegte Decke auch. Statt mit der Bahn auf einem Schiff über dem Amur nach Chabarowsk unterwegs, bin ich hellwach, reiße das Laken von der Matratze, blicke auf den Riesenfleck auf der schönen Matratze mit dem Federkern, den ganzen Stolz der Adoptionsmutter, die um Himmels willen nichts davon bemerken darf. Ich presse meinen Körper auf den Fleck der Matratze, versuche, ihm mit Körperwärme beizukommen, öffne das Fenster, bitte den halb vollen Mond inständig um trocknende Strahlen von oben herab. Die Schlafhose hänge ich zum Fenster hinaus an den Fensterhaken. Mein Unterkörper kühlt währenddessen. Ich kühle aus. Ich ringe den Rest der Nacht über mit dem Fleck. Der geht nicht weg. Der bleibt allhier und beginnt schon zu riechen. Ich suche den Geruch mit geruchsfeindlichen Worten zu beschwören. Der Name meiner Störung Enuresis nocturna. Gretel, Pastetel, was machen die Gäns, sie sitzen im Wasser und waschen die Schwänz, und die Kuh steht im Stall und macht immer muh, und der Hahn sitzt auf der Mauer und kräht, was er kann, das Huhn gackert und gackert und hat sonst nichts zu tun, und das Schwein wälzt sich im Schlammloch, findet das fein. Bin ein gestörtes Stadtkind. Bin das Kind der nächtlichen Bettnässerei, das davon niemanden etwas sagen kann, niste neben dem Bett, richte es mir auf dem Teppich her. Von Schlaf keine Rede. Gegen Morgen erwacht habe ich auf den Teppich gemacht. Kälte überkommt die Waise, fühlt sich an den Ledermantelgürtel gebunden, lebenslang mit der linken Wange an hartes Leder gepresst. Steife. Frost. Das Knattern der Maschine. Der Fluch meines Lebens. Die eisige Wange. Von hier nach dort verstoßen, umhergezogen, nebenbei behandelt, verhöhnt, verlacht und in ungemütliche Richtungen gestoßen, von einer Kälte in die nächste Kälte geworfen, von dort nach da und dort zurückgeschubst, dass keine Zeit bleibt, kein Gedanke kommen kann, mein Leid einzuklagen, den Ledermantelmann endlich bei seinem Ledergürtel zu packen, das beißende Schwarz des Mantels als Flagge bannen. Das Bibbern loswerden. Die Waise boxt um sich und erschöpft sich rasch und faltet die kleinen Hände: Ich bin der Ledermantelmann, keucht der Ledermantelmann. Der Ledermantelmann, fragt die Waise mit kindlicher Stimme. Der Ledermantelmann, bleibt die ewige Antwort. Und Angst macht sich breit, das Gefühl von Beengtheit, Beklemmung, Übergriff, Bedrohung und Gefahr. Das ängstliche Wesen ist ein steuerloses Stück Papier, als solches allen Winden ausgeliefert. Angst tritt als Ersatz an die Stelle der nicht erhaltenen Liebe. Angst bildet Haut aus wie das Fett über der heißen Milch. Angst verengt die Poren. Zum Himmel hoch stellen sich steif die Haare auf. Angst macht sich klein. Angst will nicht als Angst entdeckt sein. Von den Töchtern aus dem Nyx, den Töchtern der Nacht werde ich heimgesucht. Furchterregende Gestalten belagern meine kindliche Traumstätte. Frauen mit Mutterbrüsten, dick wie die Köchin Blume im Haus Sonne. Sich um meinen Leib windende Schlangen sind die Mutterängste. Mit ausuferndem Wuschelhaar an ihren Köpfen kommen sie zu mir ans Bett, nehmen mir Nacht für Nacht die Luft zum Atmen. Frauenhaar, bündelweise zwängt es sich mir in den Mund, mit jedem Atemzug tiefer, würgender, bis der Hals ganz gestopft ist. Von unterhalb der Dielen steigen die Muttergeister zu mir auf, senken sich über den Bettrand zu mir hernieder, suchen mich nicht zu beschwören, hauchen, zischeln, knurren, schwärmen, wallen, tuscheln, fauchen, prusten, gären, dass ich von ihrem Treiben aufrecht in Bett sitze. In jedes Heim begleiten sie mich, von hier nach dort, von Stadt zu Stadt, bis ins Heute. Wer seid ihr, bibbere ich. Erinnyen sind wir. Schenk uns besser keinerlei Beachtung. Was habt ihr vor? Rastlos ist unsere Jagd. Wir wollen dich gereinigt sehen. Wir werden nicht Gnade walten lassen. Wir kehren wieder als Eumeniden. Erwarte uns nicht. Wir melden uns bei dir. Und dann sind sie fort wie jeder Spuk. Ich untersuche das Bett nach Spuren, taste die Wände ab, schaue hinter die Schränke, lege mich flach zu Boden, suche unterm Bett nach dem Bösen. Aber da ist nichts, nur staubige Flocken auf dem Fußboden. Der Mensch kennt viele Ängste. Die Amaxophobie, die Angst vor Fahrzeugen, und die Anthropophobie, die Angst vor Menschen, und die Aquaphobie, die Angst vor Regenwasser. Die Arachnophobie, die Furcht vor Spinnen. Die Batrachophobie, die die Angst vor Fröschen, Schleim, Donner, Unsauberkeit ist, und die Angst vor der Elektrizität, vor den Insekten, Eingeweiden, Würmern, Blut und Krebsen in ihrem Flussbett sowie die Furcht vor geschlossenen Räumen, verschlossenen Toren, vor dem Weggeschlossensein, dem Alleinsein und die Bange vor dem Bangesein, das Zögern vor dem Zu-Bett-Gehen, die Furcht vor dem Hund des Nachbarn, der Maus auf dem Küchenstuhl, der Ansteckung durch Bakterien, Krankheiten, Kranksein und Kontakt mit Kranken, deren Eiter, Speichel, Kot, Angst vor allem Neuen, Angst vor dem Nackten, der Nackten, der Nacktheit, der leeren Schultafel, der vollen Schultafel, den langen Zahlenreihen an der Schultafel, den hellen Mondnächten, den mondlosen, finsteren Schwarznächten und vor allem Bammel vor Feuer, Bammel vor Mädchenhaar, Bammel vor dem Bammel und die Angst vor dem Verreisen, vor Gleisanlagen, sowie unter einen Zug zu geraten. Große Uhren gehen tick tack tick tack, kleine Uhren gehen tikke takke tikke takke und die kleinen Taschenuhren tikke takke tikke takke tick. Ich schlafe entkräftet ein. Zahlreiche Ströme konnten für den Bau der Transsibirischen Eisenbahn überbrückt werden. Frühjahrsschmelzen behinderten die Bauarbeiten. Wassermassen fluteten große Landesteile, rissen fertige Bauabschnitte mit sich fort; und mir gelingt es nicht, meiner Wasser Herr zu sein, drohe mich aus der Adoption zu spülen. Nur nicht jede weitere Nacht die Matratze wie Muttererde befeuchten. Lieber Gleise verlegen, gebraucht sein, in Sibirien heiraten, russische Kinder haben, Schafe züchten, Wolle ernten, Wolle zu Jeansstoff verarbeiten, den Stoff mit Beton mixen, Betonjeanshosen formen, die nicht von innen her nässen können.
Die Ängste, die ich entdecke, sind die Ängste aller. Stephen King
BEIM VERSUCH, mir eine Stockschleuder zu bauen, die eine Rakete ist und pfeilschnell zischt, verletze ich mir den rechten Daumen, spalte mit der Spitze meiner Holzrakete den Daumen, zertrümmere das Nagelbett. Der Daumen schwillt augenblicklich, der Nagelbruch wird aus seinem Bett geschoben. Ich werde zum Doktor gebracht. Der Doktor sagt, er könne mich notoperieren, was mit einigem zusätzlichen Schmerz einhergehen wird. Er könne aber auch die Wunde säubern und stoßsicher verbinden, es bliebe dann ein Spalt zurück, ich müsse mich entscheiden, ob der Nagel raussoll oder bleiben. Keiner dürfe mir da reinreden. Nur ich allein hätte über meinen Daumen zu bestimmen. Ich sage dem Doktor, dass ich keine weiteren Schmerzen erleiden mag, verbunden sein will und mit einem gespaltenen Daumen versehen. Die Adoptionsmutter ist außer sich, wie könne der Doktor einen Knaben bestimmen lassen, sie werde nicht zulassen, sich beschweren, es sei eine Untat, den Jungen mit einem groben Fehler heranwachsen zu lassen. Ich spüre eine Kraft in mir wie Beistand. Der gespaltene rechte Daumen ist ab sofort mein Markenzeichen, an dem sie mich alle erkennen sollen, das kleine Indiz für Macht und Mut. Die Adoptionsmutter nennt den Daumen einen Schandfleck, sagt dem Doktor, sie dulde nicht, spricht von Schädigung, Zeichengebung wie unter Knastbrüdern, hat sich einer außerordentlichen Übermacht zu beugen; sieht ihre Vorherrschaft bröckeln. Der Doktor sagt nur: Geben wir der Wunde die Zeit, die sie wünscht. Haben wir Glück, wächst alles wunderschön zusammen. Haben wir Pech, bist du ein Indianer; dein Name sei Häuptling gespaltener Daumennagel. Die ungünstige Variante tritt ein. Der Nagel wächst gespalten aus. Ich nenne mich Häuptling gespaltener Daumen, der Doktor ist ein weißer Freund, mit dessen Hilfe ich mich gegen das Schönheitsideal der Adoptionsmutter durchsetze. Ein gespaltener Daumen zu einem gespalteten Dasein ist mir recht. Ich will mit diesem tiefen Spalt an mir leben. Der kleine Spalt wird mein Erkennungszeichen, hilft mir aus der Anonymität, macht mich zu etwas Besonderem, erhebt mich über mein Waisentum.
ALS ICH NICHT HABE AUFHÖREN WOLLEN, sie nach meiner Herkunft zu befragen, nicht gefragt hätte, sondern provoziert, frech geworden, behauptet habe, die echte Mutter, was immer sie für eine Frau gewesen sei, was je sie am eigenen Kind verbrochen habe, sei mir allemal lieber als eine Frau, die nur vorgebe, Mutter zu sein, keinen Draht, keine Antenne, keine Ahnung besäße, was eine Mutter einem Kind sein könne, da habe sie sich (und sie muss von innerer Erregung geplagt innehalten) eben nicht zu helfen gewusst und nach dem Ausklopfer gegriffen.
Die Adoptionsmutter ist wie vor den Kopf geschlagen. Hass funkt. Die Hand greift nach dem Ausklopfer. Sie stürmt mit dem Ausklopfer auf mich zu, ist hinter mir her, weiß sich nicht anders zu helfen, wie sie später reumütig sagt, in so anstrengenden Zeiten, in denen ich pubertierte, mich so durchgreifend verändert und gewandelt habe; ein provozierender Charakter, der sie etliche Male mit Absicht zu Weißglut gebracht hat, dass Nervenstrenge und Nervenstränge nötig gewesen wären, über die sie nicht verfügte, erklärt sie. Böser Anwurf sind meine bohrenden Fragen nach Herkunft und wahrer Elternschaft. Sie spricht von Strenge wie Stränge von streng und Strang. Sie sagt Anwurf wie Auswurf. Sie gesteht Versäumnisse und meint damit nur: Niemand kann die Zeiger der Uhren zurückdrehen. Sie habe gelogen und verschwiegen, um mir ein besseres Leben zu ermöglichen. Fragt ausgerechnet mich, was sie denn hätte tun sollen. Wissen hätte mich verwirrt, an den Fakten sei nicht zu rütteln gewesen. Die Mutter sei keine Mutter gewesen und der Vater bleibt für sie ein feiger Schuft. Es gibt auf der Welt Dinge, vor denen muss man das Kind bewahren. Es ist nicht Lüge zu heißen, was man in bester Absicht dem Heimkind verschweigt. Sie habe Angst gehabt vor der einfachen Wahrheit. Die Adoptionsmutter zeigt Mühe, späte Reue zu formulieren. Sie habe sich selbst wohl falsch beraten, als sie sich entschloss, all meine Befragung abzuschmettern, an die Stelle von Aufklärung, das Lügenbeet zu bestellen. Zum Vater und zur leiblichen Mutter wäre kein weiteres Wort zu verlieren, stöhnt sie, heilfroh solle ich sein als das verstoßene Kind, von ihnen aufgefangen, von dem ungewollten in ein gewolltes Kind umgewandelt worden zu sein, in Dankbarkeit mich ergehen für die mutige Annahme an Kindes statt, nicht dreist die Herkunft erforschen. All meine Schritte diesbezüglich empfinde sie als Schläge mitten in ihr Gesicht und in das Gesicht des Adoptionsvaters. Man habe zu meinem Wohle lügen müssen, von Anfang an, und wäre gemeinsam übereingekommen, mit der Heimleitung und sonstigen staatlichen Vertretern, besser falsches Zeugnis abzulegen, auf Teufel komm raus zu verschweigen, im Sinne des Kindes, zu dessen besserem Gedeihen, das Märchen vom elternlosen Findelkind zu bemühen. Es sei ihnen vom Heimleiter empfohlen worden.