Peter Wawerzinek - Rabenliebe
Manche Leute sagen den Buckligen höheren Geist nach, Verstand, der in ihren Buckeln steckt, außergewöhnliches Wissen, weshalb die Buckligen früher gefürchtet waren, verfolgt wurden, getötet. Die von Geburt an Buckligen wissen um ihren Buckel und die Furcht der Menschen vor ihm und treiben mitunter Scherz gegen die Empfindlichkeit der Zeitgenossen, stellen sich zur Schau, fordern auf, näher zu kommen, den Buckel zu berühren. Mein Buckliger fährt Zickzackschlange, sodass ich ihm folgen kann, mit ihm Schritt halte und nicht zu sehr außer Puste gerate. Er hält an, steigt vom Rad ab, führt mich an das Haus mit der Nummer sechs. Die Hecke entlang, sagt: Die drei Treppenstufen empor und oben links auf den Klingelknopf drücken, und dann ist er weg wie im Märchen der gute Geist, verschwunden. Ich mühe mich, den Klingelknopf zu erreichen, komme aber nicht an ihn heran, bin zu klein für die Unternehmung, muss mir etwas einfallen lassen, eine Art Fußbank bauen und schwärme ins nähere Gelände aus, finde zwei Ziegelsteine, die ich übereinanderlege und erklimme, dass mein Zeigefinger frierend den Klingelknopf drückt, von drinnen her der warme Ton zu hören ist, dieses wohltuende Läuten, das mich ankündigt und schrickt, denn ich muss die Steine packen und an ihren Platz bringen; fort mit ihnen ins Schneedunkel, wo ich sie beleidigt aufprallen höre. Es geschieht aber nach dem Klingeln und dem Steine wegbringen eine Weile nichts. Dann sind Geräusche hinter der Tür zu vernehmen, die Haustür öffnet sich und ich erblicke das Gesicht der Adoptionsmutter. (Ich schreibe mit Absicht Adoptionsmutter, nicht Adoptivmutter, weil ich der Meinung bin, dass die Adoption nicht so adoptiv bei mir verlaufen ist, wie man es einem Heimkind herzlich wünscht, ich eher in die Adoptionsmutterfalle geraten bin, viel weniger adoptiv als adoptioniert behandelt worden bin, auch wenn es den Begriff adoptioniert erst recht nicht gibt.) Nein so etwas, ja wie denn um diese Zeit aber auch, wie erfroren da einer aussieht. Ich werde ins Haus geleitet, die Treppe empor, in den Flur, wo mir aus den klammen Sachen geholfen wird und ich in der Küche an einem Tisch sitze, heißen Tee hingestellt bekomme und erst einmal erzählen soll, was nur gewesen ist, wieso ich dermaßen durchfroren so spät angekommen bin.
Annahme an Kindes Statt
Die Annahme an Kindes Statt gibt dem angenommenen Kind ein neues Elternhaus und ermöglicht seine Erziehung in einer Familie. Sie stellt zwischen dem Annehmenden und dem Angenommenen ein Eltern-Kind-Verhältnis her und schafft die gleichen Rechtsbeziehungen, wie sie zwischen Eltern und Kind bestehen. Der Annehmende muss volljährig sein. Nur ein Minderjähriger darf an Kindes Statt angenommen werden. Zwischen dem Annehmenden und dem Kind soll ein angemessener Altersunterschied bestehen. Ehegatten sollen Kinder nur gemeinschaftlich an Kindes Statt annehmen. Wer entmündigt ist oder unter vorläufiger Vormundschaft oder Pflegeschaft steht, kann kein Kind an Kindes Statt annehmen. Die Entscheidung über eine Annahme an Kindes Statt erfolgt auf Antrag des Annehmenden durch Beschluss des Organs der Jugendhilfe. Dem Annehmenden ist über die Annahme eine Urkunde auszuhändigen. Dem Antrag ist nur stattzugeben, wenn die Annahme an Kindes Statt dem Wohl des Kindes entspricht und der Annehmende in der Lage ist, das elterliche Erziehungsrecht in vollem Umfange wahrzunehmen.
WER NUR EINEN Elternteil verloren hat, ist eine Halbwaise. Beim Verlust beider Elternteile wirst du die Vollwaise, um die sich der Staat kümmert, wenn die Verwandtschaft nicht interessiert ist. Früher hat die Kirche die Waisen behütet. Später wurden sie von den Gemeinden, Stiftungen und Vereinen umsorgt. In Deutschland erhalten die minderjährigen Kinder sozialversicherter Arbeitnehmer eine Waisenrente, sollten diese durch einen Arbeitsunfall oder eine Berufskrankheit gestorben sein. Bei Halbwaisen werden 20 Prozent des Jahresarbeitsverdienstes des Verstorbenen, bei Vollwaisen 30 Prozent als Rente gewährt. Die Waisenrente kann unter bestimmten Bedingungen, etwa bei einer Behinderung des Kindes, über das 18. Lebensjahr der Waisen hinaus bis zum 27. Lebensjahr gezahlt werden. Ein eheliches Kind kann nur mit Einwilligung, das heißt vorheriger Zustimmung der Eltern, ein nichteheliches Kind nur mit Einwilligung der Mutter adoptiert werden. Die Einwilligung muss gegenüber dem Vormundschaftsgericht erklärt werden, sie bedarf der notariellen Beurkundung. Die Einwilligung darf nicht für jeden denkbaren Fall erteilt werden. Es gibt ein Verbot der sogenannten Blanko-Adoption. Zulässig aber ist, dass der Einwilligende weder den Annehmenden noch dessen Lebensumstände kennt, die sogenannte Inkognito-Adoption. Ehegatten können ein Kind gemeinsam, Ledige alleine annehmen. Wer ein Kind alleine adoptieren will, muss das 21. Lebensjahr vollendet haben. Bei Ehegatten muss ein Ehegatte das 25., der andere das 21. Lebensjahr vollendet haben. Die Adoptiveltern müssen unbeschränkt geschäftsfähig sein.
Dieses meint Annahme an Kindes Statt. Der Annehmende leiht dem Kind die rechtliche Stellung des in eine Familie hineingeborenen Kindes. § 1741 ff. BGB. Das Kind muss für die Adoption mindestens acht Wochen alt sein. Es ist in die Adoptivfamilie eingegliedert, erhält deren Familiennamen, ist unbeschränkt Unterhalts- und erbberechtigt. Alle bisherigen Verwandtschaftsverhältnisse erlöschen. Es darf kein eheliches Kind ohne vorherige Zustimmung der Eltern und Einwilligung der Mutter adoptiert werden. Die Einwilligung wird gegenüber dem Vormundschaftsgericht erklärt, sie bedarf der notariellen Beurkundung. Die Einwilligende muss des Kindes Lebensumstände nicht kennen. Sie geht davon aus, dass das Kind gut aufgehoben ist, die Adoptiveltern Zeit, Mühe, Liebe und Geld investieren. Die neuen Eltern dienen dem Wohl des Kindes. Ein Eltern-Kind-Verhältnis entsteht.
ICH DARF MIT DER ADOPTION kein Heimkind mehr sein und habe umgehend ein Stadtkind zu werden. So leb denn wohl, du stilles Haus, ich zieh betrübt von dir hinaus, zieh betrübt und traurig fort, noch unbestimmt, an welchen Ort, leb dann wohl, du schönes Haus, du zogst mich groß, du pflegtest mein, nimmermehr vergess ich dein, und lebt denn all ihr Freunde wohl, von denen ich jetzt scheiden soll, und finden draußen denn kein Glück, denk ich mit Macht an euch zurück. Vaderhus un Modersprak, lat mit nömn un lat mit ropen, Vaderhus, du hellig Sted, Modersprak, du frame Red, schönres klingt dar niks tohopen, beste twee vub alle Gaben, müss dar niks so schön, so schön mehr as Gold un Edelsteeln, liegt in disse Wör vergraben, Kinnerglück un Oellernfreuden, ach, wer köff se wull för Geld, weert ok för de ganze Welt, leet ik ni de leeven beiden, lat mit nömn un lat mit ropen, ward mi doch dat Hart so klan, ward mi gar de hellen Tran lisen ut de Ogen lopen.
Ein Stadtkind werden ist für ein Heimkind nicht so einfach, wie man sich denkt. Es gibt eine Menge Kinder, die keinerlei Beachtung finden, obwohl laufend kinderlose Elternpaare unterwegs sind und sich in Heimen interessieren. Ich sehe mich, nach vergeblichen Versuchen doch noch adoptiert. Ich wollte die Besitznahme meiner Person nicht, Heinz und Tegen, meine beiden Freunde, ersehnten sich die Adoption so sehr. Uns war der Abschied voneinander nicht gegönnt. Wir gingen einfach so in einen anderen Zustand über, sahen uns auf immer getrennt. Keine Zeit, uns zu verschwören, kein Raum nach all den Trennungen, uns je wiederzusehen. Die Adoptionsmutter schneidet sämtliche Heimbande durch und spricht sich gegen jedweden Kontakt zum Heim aus, der Erziehungserfolge wegen, die gefährdet seien, wenn ich mich auf dem Heimniveau bewege. Es wäre eine Zeit um für mich, es gäbe da kein Zurück und gewisse Regeln müssten eingehalten werden, man dürfe nichts riskieren, es möchte doch so flink wie nur möglich aus mir ein richtiger Mensch geformt werden. Aus und vorbei, ein für alle Mal. Der Großmutter tat ich leid, nur konnte sie an den Grundsätzen ihrer Tochter auch nichts ändern. Lindern heißt ihre Aufgabe an mir, und einen Gegengeist bei mir erhalten. Ich unterstehe den Adoptionseltern, sprich, ich bin einzig für die Adoptionsmutter und ihre hochfahrenden Pläne zur Umerziehung da. Mir ist jedweder Besuch der alten Heimstätte, selbst die Nähe zum Gebiet um das Heim, aus dem mich die Adoptionseltern geholt haben, strikt verboten. Das Verbot wird von der Adoptionsmutter drohend ausgesprochen. Sie müsse sichergehen, sagt sie, dass die Früchte ihrer Umerziehung gedeihen. Ich mag das Wort Umerziehung von Beginn an nicht, wie ich andere von der Adoptionsmutter gebrauchte Begriffe nicht ausstehen kann: Anstand. Regeln. Gutes Benehmen von А bis Z.
Aufhebung auf Klage der Jugendhilfe Hat der Annehmende die elterlichen Pflichten schuldhaft so schwer verletzt, dass die Entwicklung des Kindes dadurch gefährdet ist, kann das Gericht auf Klage des Organs der Jugendhilfe die Annahme an Kindes Statt aufheben. Hat ein Ehepaar gemeinschaftlich ein Kind angenommen, so kann im Interesse des Kindes die Annahme an Kindes Statt auch aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen des Abs. 1 nur bei einem Ehegatten vorliegen.
DIE WORTE FOLGSAM UND ANSTELLIG mag ich nicht, weil sie der Adoptionsmutter Synonyme sind für geschickt, gewandt, geübt, praktisch veranlagt und routiniert im Umgang mit dem Gelernten, brauchbar, einsichtsvoll, achtsam, arbeitsam, aufmerksam, beflissen, eifrig, emsig, fleißig, flink, flott, forsch, frisch, agil, anpassungsfähig, behände, einsichtig, gelehrig, lenkbar, lernbegierig, lernend. Obwohl ich noch keinen historischen Hintergrund der Begriffe abzuleiten befähigt bin, lasten die Worte schwer, und ich bin augenblicklich gegen die Verfechterin von Umerziehung eingestellt, die meine widerständlerische Haltung ihr gegenüber instinktiv spürt und umso heftiger gegen meinen Unmut vorgeht. Umerziehung war zu jener Zeit in China gängig, Mao und der Große Sprung nach vorn. Von der Umerziehung versprachen sich die Chinesen Wirtschaftswachstum. Umerziehung meinte Kollektivierung und Unterordnung in die Volkskommunen, Abschaffung alter Bräuche und Gewohnheiten, Hingabe an die Staatskultur, der Parteilinie. Abweichler werden rigoros verfolgt.
Ich habe mit der Adoption so viele neue Regeln zu beachten. Ich werde erzogen und korrigiert, und wo es sein muss, bekomme ich Zusatzaufgaben erteilt, die ich zu absolvieren habe; das Pensum, wie die Adoptionsmutter sagt, zum Anfang sicher viel, aber wenn ich die Regeln beherrschte, käme Freude auf und ich würde sehen, wie sie mich voranbrächten, wie angesehen ich mit der Zeit würde, wie man nur Gutes von mir reden würde und ich mich erfreuen sollte an dem Umstand, kein Heimkind mehr zu sein, sondern zu Manieren fähig, die meiner würdig sind. Alles was sie unternehme, wäre in meinem Sinne. Ich mime den Interessierten und verspreche, nie wieder ins Heim zu gehen, und umgehe das von der Adoptionsmutter ausgerufene Heimbesuchsverbot sofort, treffe mich mit den alten Freunden nach der Schule, verbringe mit ihnen die mir vergönnte knappe Zeit. Am gleichen Tage kommt es heraus, wie alles immer gleich herausgekommen ist, durch Plappermäuler und Lehrersleut, die im Lehrerzimmer Zuträger meines Adoptionsvaters sind und alles weitererzählen. Wo man uns als Heimkinder nie als Einzelwesen, sondern immer nur als Gruppe, Bande, Haufen betrachtet hat, bin ich als Adoptionskind nunmehr ortsbekannt, und alle meine Schritte werden wie die eines bunt gestreiften Straßenköters überwacht. Ihr Sohn hat dies und das getan; ich glaube, ich habe da Ihren Sohn bei denen und dem gesehen; wir wollen ja nichts damit sagen, nur denken wir, dass er es nicht soll, oder gehen wir da etwa fehl in der Annahme. Blicke überwachen mich. Ein Tuscheln ist um mich wie von Zeitungsseiten das Rascheln. Sie begutachten mich und sehen an meinem Gang, was ich vorhabe; und jeder im Ort weiß, dass mir von der Adoptionsmutter die Nähe zum Kinderheim untersagt worden ist. Nicht alle, aber fast jeder in unserer Straße wollte behilflich werden und nur mal so erwähnen. Jeder Tag ein Spießrutenlauf. Jede freundliche Person hinter meinem Rücken in eine Petze verwandelt und zu meinen Adoptionseltern unterwegs, die Botschaft zu hinterbringen. Da kommen wir gegangen mit Spießen und mit Stangen, gebt uns Holz und gebt uns Stroh, das soll brennen lichterloh.
DIE AUSTRALISCHE REGIERUNG führte einst ein Gesetz ein, mit dem Regierungsbeamte ermächtigt wurden, Kinder von Ureinwohnern von ihren Müttern zu trennen, damit sich die Zukunftsaussichten der betroffenen Kinder verbesserten. Es wurden auf diese Weise unzählige Familien auseinandergerissen, die den Müttern entrissenen Kinder in Schlafsäle verbracht und zur Adoption freigegeben. In ihren Gebieten wurden die Wanderbewegungen der Aborigines kontrolliert. Verwandte wurden voneinander isoliert. Der familiäre Vernichtungszug ging mit der Zerstörung der kulturellen Identität einher; ohne Zugang zu ihren sakralen Orten erstarb die Traumzeit-Mythologie, das auf ständige Erneuerung im Ritus angelegte Weltbild der Aborigines, durch nichts Vergleichbares zu ersetzen.
Zogen die Aborigines in europäische Siedlungen ein, so lieferten sie sich der herrschenden Siedlungspolitik aus. Sie lebten als Viehtreiber, Hilfsarbeiter. Sie durften ihre Sprache nicht mehr sprechen. Ihre Zeremonien und Gebräuche wurden verboten, ihnen der Kontakt zu anderen Aborigines streng untersagt.
DIE WOHNUNG DER ADOPTIONSELTERN. Dicke Vorhänge, mit Beginn der Dämmerung zugezogen, hindern jedes Licht von außen einzudringen. Die Vorhänge wiegen schwer und lassen sich nur unwillig bewegen. Die Halterungsstangen sind gut verankert und leicht gebogen, vom Gewicht der Vorhänge mürbe geworden. Das Wohnzimmer erinnere ich dunkelgrün, das Innere einer Galle. Die Möbel sind dunkelbraun lackiert. Schwere, eckige Sitzkissen mit goldenen Fäden eingefasst, mit Kordeln versehen. Bommeln. Schnüre. Dunkle Kissen. Dunkle Lehnen. Dunkle Tischbeine. Eine dunkle Anrichte mit einem dunklen Anrichtenaufbau. Eine dunkle Stehlampe mit dunklem Lampenbogen. Am Metallbogen ein riesiger, dunkler Lampenschirm. Lichtundurchlässig. Pergament oder Tierhaut. Üppig ausladende Deckenleuchte mit acht dunklen Krakenarmen drohend über dem dunklen Wohnzimmertisch, um ihn herum vier Stühle, drei Sessel. In der Ecke der vierbeinige Fernseher, groß wie ein Geldschrank. Decken und Deckchen. Selbst auf dem zierlichen, auf Rollbeinen verschiebbaren Teetischwagen. Abwechslung bescheren die zwei seidigen Sitzkissen auf der mit Schutzdecken eingemummelten Omakautsch, die von der Adoptionsmutter mit rabiater Handschlagkante in Knickhaltung gebracht werden, sodass sich ihre beiden seidigen Ecken in lachhafte Zierzipfel verwandeln, die sich spitz zur Decke recken, als würden die Sitzkissen um Hilfe rufen. Wenn die Adoptionsmutter die Kissen mit Vertiefung versieht, kommentiert die Großmutter ihr Tun mit einer Kopfbewegung über die Schulter der Adoptionsmutter zu mir hin. Die Kautsch der Großmutter steht im Großmutterzimmer. Sie nennt sie Kautsch wie К und autsch hinten dran. Kautsch wie autsch sage auch ich zu dem Möbelstück. Das Zimmer liegt hinter der Tür im Flur links neben dem Doppelspiegel. Das Zimmer ist nicht größer, als ein Doppelbett groß sein kann. Die Kautsch ist mit Samt bezogen. Ich fahre mit meinen Fingern die Oberflächen, Seitenflächen, Ränder ab, um Linien zu hinterlassen, die am Ende einem gepflügten Acker ähnlich sehen. Der Samt ist mir kirschenrot in Erinnerung. Ein tiefes gesundes Rot, zum Hineinbeißen frisch und knackig. Die Großmutter schläft in einem Bauernbett mit Holzbogen. Das Bett knarrt so schön. Knarre, alte Ware, knarre. Die Wände sind voller Tapeten. Die Tapeten sind leer. Gehen uns die Tapeten flöten. Wo kriegen wir nur neue schwere Muster her. Denn da ist ja nur die eine Wand mit dem einen Bild geschmückt. Auf dem Bild eine Landschaft. Ein Landschaftsausschnitt. Oberschlesien, wie die Großmutter lobt. Nicht viel größer als ein bescheidener Rembrandt. Die Landschaft, die das Land schafft. Land. Wand. Wald. Allee. Bäume mit dicken Stummeln statt Asten: alles von dunkler Farbgebung. Auf der Kautsch-autsch sitzen ist schön. Die Wohnung der Adoptionseltern kommt ohne Dusche aus. Die Toilette ist viel zu eng für die zwei beleibten Benutzer, denkt das Kind. In der engen Toilette gibt es nur das winzige Handwaschbecken, das mehr ein Modell von einem Waschbecken ist, als dass man es benutzen kann. Eine Miniaturausgabe. Mir reicht es hin. Ich bin klein. Ich kann in der Enge fröhlich sein. Ich kann mich an dem Becken waschen, weil ich kleine Hände mit schmalen Fingern habe. Und lassen sich Tropfen nicht vermeiden, muss das Kind sich bescheiden. Die Fußbank unter meine Füße geschoben und gut eingeübte Hüftverrenkungen getätigt, ermögliche ich mir eine tropfenarme morgendliche Katzenwäsche. Und ist da auch in der Enge kein Platz für die Ganzkörperwäsche, so muss ich dennoch nicht in die Küche umziehen, ans Waschbecken, an die Abwaschschüssel vom Ausziehtisch treten. In der Küche, rechts neben der Eingangstür, steht dem Adoptionsvater sein gusseiserner Ausguss zur Verfügung. Dreimal größer als mein Minibecken und fest in die Küchenwand montiert. An ihm unterzieht der Adoptionsvater sich der Reinigung, ein immer gleicher, komplexer Bühnenakt, ein Ein-Personen-Theaterstück. Es ist eine klatschende Auftaktmusik zu hören. Besser noch lässt sich die Szene mit einer Komposition von Franz Liszt untermalt beschreiben, eine seiner neunzehn Ungarischen Rhapsodien, entstanden unter dem Einfluss der magyarischen Volksmusik, Nummer zwei, in der Interpretation von Jenö Jando. Alles Weitere läuft wie in einem Stummfilm ab. Wer will, bedient sich der Literatur. Man kann zu dem Spiel auch den von einem Raben selbst gesprochenen Text Edgar Allen Poes über der Musik schweben lassen; und dieser Rabe spricht dann mit der Stimme von Gustaf Gründgens.