Otfried Preußler - Neues vom Räuber Hotzenplotz
„Ich muss Sie enttäuschen, Großmutter", sagte der Räuber Hotzenplotz. „Kasperl und Seppel sind nicht gekommen, um Sie nach Hause zu bringen: Sie werden hier bleiben – vorläufig wenigstens, bis ich mir überlegt habe, was ich mit ihnen mache. Fürs Erste kommen sie an die Kette und dürfen den Fußboden scheuern!"
Er holte zwei Ketten herbei. Mit der einen hängte er Kasperl am Mauerring an, mit der anderen Seppel, dem das nichts Neues war, weil er ja vor drei Wochen schon einmal von ihm an die Kette gelegt worden war.
„Ich hoffe, die Fußschellen sitzen stramm genug!"
Hotzenplotz lachte und steckte den Schlüssel in seine Westentasche.
„Passt auf, dass die Ketten sich nicht verheddern! Ich hole jetzt Wasser und Schmierseife. Dann kriegt jeder von euch eine Wurzelbürste – und wehe, wenn ihr den Boden nicht weiß schrubbt wie eine frische Windel!"
Großmutter war vor Schreck und Verzweiflung auf einem Hocker zusammengesunken. Hotzenplotz stieß mit dem Fuß dagegen und raunzte:
„Heulen Sie hier nicht rum, damit ändern Sie doch nichts! Nehmen Sie lieber die Rotkappen da und kochen Sie mir eine Schwammerlsuppe davon – aber mit Speck und Zwiebeln, verstanden, und einer guten Einbrenn dran, denn so mag ich das!"
Schwammerlsuppe
Kasperl und Seppel rutschten auf den Knien durch die Räuberhöhle und schrubbten den Fußboden. Während Hotzenplotz Wasser und Seife geholt hatte, hatten sie Großmutter schleunigst in den Geheimplan eingeweiht.
Hotzenplotz saß gemütlich im Armstuhl. Er spielte an seiner Pfefferpistole herum und ahnte nicht, was die drei miteinander besprochen hatten.
„Sind das auch ganz bestimmt lauter echte Rotkappen?", fragte ihn Großmutter überm Schwammerlputzen. „Sie wissen ja, ich bin kurzsichtig und muss jede Verantwortung ablehnen."
„Unsinn!", erwiderte Hotzenplotz. „Wenn ich Ihnen sage, dass diese Pilze in Ordnung sind, sind sie in Ordnung."
„Aber es könnte vielleicht ein Knallpilz darunter sein. Knallpilze sind bekanntlich sehr giftig, man kann sie mit Rotkappen leicht verwechseln ..."
„Ach, hören Sie auf damit! Das ist alles Blödsinn mit Ihren alten Knallpilzen! Nie gehört davon. Dies hier sind Rotkappen, dafür lege ich meine Hand ins Feuer, da können Sie ganz beruhigt sein."
Großmutter trat an den Herd. Wenig später erfüllte ein köstlicher Duft die Räuberhöhle. Hotzenplotz sog ihn gierig ein.
„Ist die Schwammerlsuppe bald fertig?"
„Gleich", sagte Großmutter. „Nur noch Pfeffer und Salz dran – und einen Schuss Essig ... So, bitte sehr!"
Sie rückte den Topf vom Feuer und stellte ihn auf den Tisch.
„Wenn Sie kosten möchten?"
Hotzenplotz legte die Pfefferpistole weg.
„Aufhören!", rief er Kasperl und Seppel zu. „Während ich esse, dürft ihr euch in die Ecke verkriechen und Pause machen."
Er setzte sich an den Tisch, er schnupperte an der Suppe, er wollte den ersten Löffel zum Mund führen, um zu kosten – da hörte er Seppel halblaut zu Kasperl sagen:
„Wie kann man bloß so verrückt sein auf Schwammerlsuppe? Mich könntest du zu den Hottentotten jagen damit!"
„He?", fragte Hotzenplotz prompt. „Was muss ich da hören, Seppel? Du magst keine Schwammerlsuppe?"
„Brrr!", machte Seppel und hielt sich die Nase zu. „Der Geruch allein reicht mir schon!"
Hotzenplotz musterte ihn aus den Augenwinkeln.
„Und wenn man dich zwingen würde?"
„Wozu?"
„Dass du davon isst ..."
„Bitte nicht!", sagte Seppel erschrocken. „Das dürfen Sie mir nicht antun!"
„Ach nein?", meinte Hotzenplotz; und dann tat er genau das, was Kasperl im Stillen erhofft hatte:
„Großmutter!", rief er. „Füllen Sie diesem Bengel mal einen Teller von meiner Suppe ab – und zwar reichlich, verstanden?"
„A-aber, S-sie w-werden d-doch ...", stotterte Seppel. „Sie w-werden doch n-nicht von m-mir verlangen ..."
„Dass du den Teller auslöffelst?" Hotzenplotz fletschte die Zähne. „Ja, das verlange ich! Tu, was ich sage und iss das – oder es soll dir Leid tun, verdammt noch mal!"
Großmutter legte sich für den armen Seppel ins Mittel.
„Wo er doch Schwammerlsuppe nicht ausstehen kann!"
„Eben drum!", sagte Hotzenplotz.
Dabei blieb er und Seppel musste den Teller auslöffeln bis auf den Grund. Das fiel ihm in Wirklichkeit zwar nicht schwer, weil er für Großmutters Schwammerlsuppen seit jeher viel übrig hatte; aber er tat so, als ob es ihn schreckliche Überwindung kostete. Hotzenplotz weidete sich daran und verspottete ihn noch obendrein.
„Iss du nur tüchtig, iss du nur! Junge Leute von heute dürfen nicht zimperlich sein – schon gar nicht bei Schwammerlsuppe, hö-hö-höhöööh!"
Als Seppel den Teller leer gemacht hatte, jagte Hotzenplotz ihn vom Tisch.
„So, nun bin ich dran. Mahlzeit!"
Er ließ sich die Suppe schmecken, man hörte es. Schlürfend und schmatzend löffelte er drauflos.
Kasperl und Seppel hockten mit trauriger Miene in einem Winkel der Räuberhöhle, als ob sie sich von der Arbeit ausruhen müssten. Von Zeit zu Zeit warfen sie einen verstohlenen Blick auf Hotzenplotz. Sie warteten, bis er den Topf mit der Schwammerlsuppe geleert hatte und den Löffel weglegte. Dies war für Seppel das Zeichen. Er kippte vornüber zu Boden und brach in ein dumpfes Gewimmer aus:
„Huuuh! Hu-ahuuuh! Hu-ahuuuh-ahuuuh!"
Hotzenplotz drohte ihm mit der Faust.
„Was soll das Gewinsel? Aufhören! Schluss damit!"
Großmutter eilte, so schnell es die Kette an ihrem Fuß erlaubte, zu Seppel und beugte sich über ihn. Seppel krümmte sich wie in furchtbaren Schmerzen und wimmerte weiter:
„Huuuh! Hu-ahuuuh-ahuuuh! Helft mir doch, heeelft miiir, ahuuuhahuuuh!"
Kasperl versuchte ihn zu beruhigen. Seppel heulte und jammerte nur noch herzzerreißender.
„Was hat er denn?", fragte Hotzenplotz; er stand auf und trat näher heran.
„Was der hat?", meinte Kasperl. „Das sehen Sie doch, er hat Bauchweh."
„Ahuuuh!", heulte Seppel. „Ahuuuh-ahuuuh! Es zerreißt ... Es zerreißt mich gleich!"
Großmutter fasste sich an den Kopf, als sei ihr in diesem Augenblick etwas Grässliches klar geworden.
„Knallpilze!" Sie begann sich das Haar zu raufen. „Es muss eine Knallpilzvergiftung sein! Armer Seppel! Es wird ihn von innen heraus in Stücke reißen, oje, oje! Diese schrecklichen Knallpilze! Und-kein-Arzt-ist-da-und-kein-Arzt-ist-da!"
Erste Hilfe
Hotzenplotz wurde käsebleich im Gesicht. Eine Knallpilzvergiftung? Schon glaubte er einen leichten Druck in der Magengegend zu spüren. Mit einem Mal war ihm hundeelend zumute. Er fühlte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach.
„Lässt sich da gar nichts machen?", fragte er.
„Doch", sagte Kasperl. „Zum Glück verstehe ich etwas von erster Hilfe bei Pilzvergiftungen. Hätten Sie zufällig ein paar feste Stricke zur Hand?"
Seppel brüllte vor Schmerz wie ein kranker Ochse, Großmutter weinte bitterlich. Hotzenplotz merkte, dass ihm die Knie zu schlottern begannen. Er ließ sich in seinen Armstuhl fallen, deutete auf die Truhe neben dem Kleiderschrank und sagte mit matter Stimme:
„Dort findest du Stricke, so viel du magst. Ich habe mir aus Berufsgründen einen kleinen Vorrat angelegt."
Kasperl warf einen Blick in die Truhe.
„Ich glaube, das reicht."
Mit Großmutters Hilfe setzte er Seppel auf einen Hocker. Dann wand er ihm einen langen Strick um den Leib und redete ihm gut zu.
„Schön stillhalten, Seppel! Wir schnüren dir jetzt den Bauch zusammen, so fest es geht – damit dich die Knallpilze nicht von innen heraus zerreißen können. Merkst du schon eine kleine Besserung?"
„O ja", stöhnte Seppel. „Ich glaube, der Schmerz lässt ein wenig nach ... Tu noch einen Strick drum, Kasperl!"
Hotzenplotz sah mit Staunen und einer gewissen Erleichterung, dass Seppel mit jeder neuen Schlinge, die Kasperl ihm um den Leib zog, ein wenig ruhiger wurde – bis er zuletzt ganz friedlich auf seinem Hocker saß und mit strahlender Miene versicherte:
„Alles in Ordnung, Kasperl! Die Bauchschmerzen sind wie weggeblasen. Ich glaube, dass ich es überstanden habe ..."
Kasperl klopfte ihm auf die Schulter.
„Du weißt, dass wir großes Glück hatten. Sechs oder sieben Minuten später und alles wäre umsonst gewesen ..."
Großmutter wischte sich mit dem Handrücken eine Freudenträne aus dem Gesicht, sie schluchzte:
„Ich kann dir ja gar nicht sagen, Seppel, wie froh ich bin, dass du außer Gefahr bist!"
„Und ich?", rief der Räuber Hotzenplotz. „An mich denkt hier überhaupt niemand, wie?"
„An Sie?", fragte Kasperl. „Wie kämen wir denn dazu?"
„Weil ich auch von der giftigen Schwammerlsuppe gegessen habe – und nicht zu knapp sogar! Wollt ihr mich etwa platzen lassen?"
„Das wäre vielleicht das Einfachste", brummte Kasperl.
„Dann hätten wir endlich Ruhe vor Ihnen ... Was meinst du, Großmutter?"
Großmutter wiegte den Kopf; dann sagte sie sanft und leise:
„Ich glaube, wir sollten ihm trotzdem helfen – schließlich sind wir ja keine Unmenschen."
Kasperl zögerte eine Weile.
Hotzenplotz flehte ihn an, keine Zeit zu verlieren: Er spüre schon, wie es in seinen Eingeweiden rumore ...
„Na schön", meinte Kasperl endlich. „Bedanken Sie sich bei Großmutter."
Hotzenplotz musste sich tief in den Armstuhl zurücklehnen und die Hände fest auf den Magen pressen. Dann legte ihm Kasperl den ersten Strick um.
„Schön aufrecht sitzen und stillhalten!", sagte er. „Und vor allem die Hände nicht von der Stelle rücken! – Sehr brav so ... Ich denke, wir haben es bald geschafft. Wenn es Ihnen zu eng wird, sagen Sie mir's ..."
„Nein, nein!", keuchte Hotzenplotz. „Hauptsache, es zerreißt mich nicht!"
Kasperl band ihm die Arme fest an den Leib und schnürte ihn heimlich am Lehnstuhl an. Er umwickelte ihn mit vier starken Stricken – so stramm, dass er kaum noch Luft bekam.
„Nun bewegen Sie mal die Arme!"
„Das kann ich nicht", sagte Hotzenplotz.
„Wirklich nicht?", forschte Kasperl. „Und wenn Sie sich große Mühe geben?"
Hotzenplotz schloss die Augen und strengte sich mächtig an. Trotzdem gelang es ihm nicht die Arme zu rühren.
„Ist es so richtig?", fragte er.
Ja", sagte Kasperl. „So ist es richtig – mehr haben wir mit dem Affentheater gar nicht gewollt."
„Mit welchem – Affentheater?"
Kasperl gab Großmutter einen Wink, Großmutter löste die Stricke um Seppels Bauch.
„Gut hast du deine Rolle gespielt, Seppel! Hätte ich nicht gewusst, dass es keine Knallpilze gibt – ich glaube, ich wäre vor Angst gestorben!"
Dem Räuber Hotzenplotz ging ein Licht auf.
„Habt ihr mich etwa angeschmiert? Hätte ich gar nicht zu platzen brauchen? Auch ohne die Stricke nicht? Oh, ihr verdammtes Lügenpack! Jagen mir diese Scherzbolde einen solchen Schreck ein, für nichts und wieder nichts!"
Kasperl und Seppel hatten damit gerechnet, dass Hotzenplotz einen Wutanfall kriegen würde; stattdessen brach er in wildes Gelächter aus. „Hö-hö-hö-höööh!", rief er. „Fein habt ihr das gemacht, ihr drei Schlauberger, oberfein! Wisst ihr auch, dass ihr mich wieder losbinden müsst?"
„Darauf können Sie lange warten!", erwiderte Kasperl.
„Sag das nicht, sag das nicht! Oder habt ihr vergessen, dass ich den Schlüssel zu euren Fußschellen in die Westentasche gesteckt habe? Und wo sitzt die? Genau an der Stelle, wo jetzt meine Hände sind, hö-hö-hö-höööh! Wie wollt ihr denn an den Schlüssel kommen, ohne mich loszubinden? Könnt ihr mir das verraten? Die Pfefferpistole, Kasperl, wird dir nichts nützen, die ist nämlich nicht geladen, hö-höhö-höööh!"
Kasperl, Seppel und Großmutter waren wie vor den Kopf geschlagen. Hotzenplotz hatte leider Recht. Zu dumm, dass sie nicht an den Schlüssel gedacht hatten! Aber man kann nicht an alles auf einmal denken.
„Ich könnte mich totlachen, wenn ich mir eure langen Gesichter ansehe!", wieherte Hotzenplotz. „Ehrenwort – regelrecht totlachen!"
Dann fuhr er sie plötzlich mit zorniger Stimme an:
„Los jetzt, ihr elenden Stümper, wie lang soll ich hier noch warten? Nehmt mir die Stricke ab und dann wollen wir weitersehen, verdammt noch mal!"
Im übrigen sind Sie verhaftet!
In der Zwischenzeit war der Herr Polizeioberwachtmeister Alois Dimpfelmoser nicht faul gewesen. Geleitet von allen guten Wünschen der Witwe Schlotterbeck, hatte er Wasti an die Leine genommen und war mit ihm in den Wald geeilt. Beim alten Steinkreuz nahm Wasti die Fährte des Räubers Hotzenplotz auf. Er war wirklich ein ausgezeichneter Spürhund. Die Schnauze am Boden, zerrte er den Herrn Oberwachtmeister hinter sich her – so ungestüm, dass Herr Dimpfelmoser kaum Schritt halten konnte.
„Brav, Wasti!", keuchte er. „Brav machst du deine Sache. Wenn wir den Räuber geschnappt haben, gibt es Wursti-Wursti!"
„Waff!", machte Wasti. „Waff-waff!" (Damit wollte er sagen, dass er Herrn Dimpfelmoser verstanden hatte.)
Von jetzt an war er mit doppeltem Eifer am Werk. Er versagte es sich sogar, an besonders einladenden Bäumen das Bein zu heben.
„Ich bin ja gespannt, wohin er mich führt ...", dachte Herr Dimpfelmoser.
Seine Enttäuschung war grenzenlos, als sich herausstellte, dass die Fährte bei der vernagelten Räuberhöhle endete. Da konnte doch was nicht stimmen!
„Du musst dich getäuscht haben, Wasti", brummte er.
„Wäff!", machte Wasti. „Wäff-wäff!" (Damit wollte er sagen, dass er sich nicht getäuscht hatte.)
„Doch!", widersprach ihm Herr Dimpfelmoser. „Du hast dich getäuscht, und zwar ganz gewaltig! Mit Wursti-Wursti ist es für heute aus – aus und ... Nanu, was ist das denn?!"
Herr Dimpfelmoser legte die Hand ans Ohr. In der Räuberhöhle schrie jemand herum, das hörte er deutlich. Der Stimme nach war es Hotzenplotz.
„Donnerwetter!", dachte Herr Dimpfelmoser. „Die Höhle ist vorschriftsmäßig vernagelt – und trotzdem befindet sich dieser Kerl drin? Das geht doch wohl nicht mit rechten Dingen zu!"
Ohne sich lang zu besinnen, riss er die Bretter vom Eingang weg. Dann zog er den Säbel, drückte den Helm in die Stirn und sprengte mit einem Fußtritt die Tür.
„Heff-heff!", kläffte Wasti – und ehe Herr Dimpfelmoser ihn daran hindern konnte, schoss er an ihm vorbei in die Höhle. Gleich darauf schrie der Räuber Hotzenplotz Zeter und Mordio.